Carl Müller ist ein fleissiger Mann. Ihm gehört der Campingplatz am See: Zelte, Wohnwagen, Kiosk, Badestrand. Und ihm gehört der Bauernhof: Kühe, Kälber, Wiesen, Wald. Müller hat viel zu tun. Matten mähen, Kühe melken, den Winter vertreiben, Tag für Tag, von frühmorgens bis spätabends. Oft sitzt er dabei auf seinem roten Traktor, Hut auf dem Kopf, schwere Schuhe an den Füssen.
In Hörweite von Müllers tuckerndem Diesel, 200 Meter von Hof und Campingplatz entfernt, steht eine weisse Villa hinter einem hohen Zaun. Seeanstoss, alte Tannen, Rasen, Kiesplatz. Und auf der breiten Terrasse davor steht Karin, Prinzessin zu Schaumburg-Lippe. Die 42-Jährige gibt heute ein Interview fürs ZDF, die kurzen braunen Haare schön frisiert, eleganter Blazer, hohe dunkelbraune Stiefel, die Stimme etwas laut. Vielleicht wegen Müllers altem Traktor.
Bescheiden die einen, reich, superreich und glamourös die anderen, ländlich und weltmännisch, zurückhaltend und extrovertiert – das sind die zwei Welten von Oberägeri im Kanton Zug.
Das Geld thront über dem Dorf
5172 Einwohner bei der letzten Zählung. Fr. 3.90 das Baarer Räbetörtchen in der Dorfbäckerei. 24. April, der erste Zuger Ländler-Tanzkurs. Drei Männer um den Stammtisch im Gasthof Rössli. Bald ist Mittag. Von 12 bis 14 Uhr läuft in Oberägeri nichts; die Läden sind geschlossen, nur der Verkehr auf der Hauptstrasse rollt weiter. Autos aus Zürich und Zug, teure Wagen, tiefe Nummern.
Jeder siebte Einwohner in Oberägeri ist Millionär. Bald jeder sechste. Doch das Geld liegt nicht im Dorf unten. Das Geld thront oben, mit Blick über See und Berg, in den Quartieren am Hang: im Müsli, Hagli, im Grod, auf dem Eggboden. Dort ist das andere Oberägeri. Das Ober-Ober-ägeri.
Betreten verboten, Privatweg, kein Zutritt. Eine Kollektion von Luxusvillen, dicht an dicht an leeren Strassen, kein Auto, kein Mensch, kein Kind. Nicht einmal eine Katze, die in der Sonne döst. Gartentore, Hecken, Mauern, Zäune. Briefkästen und Klingelschilder, meist ohne Namen, manchmal mit Initialen. Ein Kirschbaum raschelt im Wind.
Das Geschäft von Cyrill Mathis läuft gut wie nie. Der Architekt im rosa Hemd kommt mit dem Bauen und Entwerfen gar nicht mehr nach. Jetzt hat der 43-Jährige zusätzliche Räume mieten müssen, im Nachbarhaus, bei der Raiffeisen-Bank, Bachweg 7. Keiner baut hier so viele Luxushäuser wie Mathis und sein Partner Erich Meier. In seinen Büroräumen Fotos von exakt begrünten Terrassen, Designer-Whirlpools, Hightech-Medienräumen mit Grossleinwand und plüschig-roten Kinosesseln.
Mindestens 500 m2 Wohnfläche
Wenn die Börsenkurse steigen, läuft das Geschäft mit dem Hausbau. Der Ortsplan müsste monatlich neu gezeichnet werden, sieben Baustellen sind es im Moment. Alle am Hang, einige am See, keine im Dorfkern. Gefragt sind grosse Häuser. Sehr grosse Häuser. Mit mindestens 500 Quadratmetern Wohnfläche. Mit Wellnesszone, Dampfbad, Sauna, Fitnessraum. Hochsicherheitsglas, schalldicht, UV-geschützt. Mit zentralem Touch-Screen für Rollläden, Klima, Musik. Mit programmierten Licht-Szenarien für jedes Zimmer. Stahl, Glas, Sichtbeton, Edelholz. Für sich selbst baut Mathis jetzt auch ein Haus am Hang, zieht bald vom Dorf nach oben. Dass er einmal so gut bei Kasse sein würde, das hätte er nie gedacht.
Wer nicht so gut bei Kasse ist, der kann sich das Wohnen in Oberägeri bald nicht mehr leisten. 2500 Franken für vier Zimmer an der Hauptstrasse sind normal. Mietwohnungen am Hang gibt es selten, unbebautes Land ist rar.
Wohneigentum gibts ab mindestens zwei Millionen Franken zu kaufen. Viele Einheimische sind schon weggezogen. Für die Dagebliebenen werden demnächst 44 preisgünstige Eigentumswohnungen gebaut – 634 000 Franken für 5 1/2-Zimmer.
Es ist 8 Uhr morgens, Mathis ist längst im Büro, seine Kundschaft wartet nicht gern. Fotos von sich selbst will er keine in der Zeitung sehen. Bilder von Objekten erst recht nicht. Namen verrät er keine, jedenfalls nicht zum publizieren. Die Diskretion hier oben, Sie verstehen.
Die da oben, wir da unten
Diskret ist in Oberägeri keiner. Erzählen will jeder – Hauptsache, man bleibt anonym. Da ist die Geschichte von der 15-Millionen-Villa mit den orangen Sonnenstoren. Die Ehe des Auftraggebers war noch vor den Malerarbeiten beendet. Die Erfolgsstory von dem IKEA-Manager, der sein Vermögen in den USA machte und jetzt das modernste Haus am Hang bewohnt. Oder jene vom 38-jährigen Financier, einem der 300 reichsten Schweizer. Seine Frau ist die Einzige von dort oben, die sich da unten politisch engagiert. Oder das Gerücht vom Geschäftspartner von Boris Becker! Noch keiner hat ihn je zu Gesicht bekommen. Und der CEO vom grossen Sportunternehmen? Baut der nicht gerade einen Swimmingpool aus Edelstahl?
Schliesslich die milliardenschweren C&A-Brenninkmeyers! Die haben eben erst ihren Boots-Anlegeplatz gekündigt. Ob sie weggezogen sind, weiss keiner. Man hat nicht so viel Kontakt. Die da oben und wir da unten.
Es ist ein anderes Leben geworden im Dorf, seit die Reichen hergezogen sind, sagt die Frau vor der Kirche, wir werden von den Millionären überrollt. Der Mann im Falken hat den ganzen Protz satt. Und die Mutter mit dem 3-jährigen Mädchen will wegziehen, die Klassenunterschiede sind zu gross, es muss endlich etwas passieren!
Thomas Brändle ist einer, der etwas tut. Der FDP-Kantonsrat, im Hauptberuf Schriftsteller, wehrt sich öffentlich gegen den Zuzug der Reichen. Der Kanton Zug solle aufpassen, dass er wirtschaftlich nicht immer einseitiger werde, sagt er, sonst gehe es ihm wie mit König Midas in der griechischen Sage: Alles wird zu Gold, bis einer merkt, dass man Gold nicht essen kann.
Natürlich ist Neid dabei. Vielleicht auch ein bisschen Wut. Sicher viel Gerechtigkeitsgefühl. Ganz gewiss auch eine Prise Stolz. Schliesslich steht eine 20-Millionen-Turnhalle beim Schulhaus. Bezahlt mit Steuergeldern. Es gibt zwei GaultMillau-Restaurants: das Gulm, 14 Punkte, der Hirschen, 15 Punkte. Und bald soll die Seepromenade ausgebaut werden. Reichtum, so findet Gemeindepräsident Gustav Iten, ist nicht per se schlecht. Immerhin leben in Oberägeri viele einflussreiche Menschen. Menschen mit grossen Namen in der Schweizer Finanzwelt. Menschen, die viel erreicht haben in ihrem Leben – zumindest, was das Bankkonto betrifft.
Nach Zürich zum Shoppen
Das ZDF ist weg, Prinzessin Karin zu Schaumburg-Lippe sitzt am langen Esszimmertisch, spendiert Cola light aus dem eigenen Automaten. Sie ist glücklich, am See unten zu leben. Am Hang oben, sagt sie, das war die letzten Jahre wie im Gefängnis – eng bebaut, alle Nachbarn haben mir durch die Fenster gesehen. Wer will das schon? Charly, ihr Berner Sennenhund, schläft am Boden. Gleich kommt Catharina, 12, von der Schule nach Hause. Man muss dieses Dorf hier mögen, sagt die Prinzessin, es ist sehr ländlich, aber für Kinder perfekt. Hier haben wir unsere Ruhe und den Frieden. Einmal pro Woche fährt die Adlige nach Zürich zum Shoppen. Sohn Max, 10, packt die Koffer. In drei Tagen reist die Familie für sieben Wochen in den Oman – Reiseexpedition fürs Fernsehen.
Und gestern war ich mit meinen Freunden in einer Bar im Dorf, erzählt die Prinzessin, Abschied feiern vor dem Urlaub. Wissen Sie, meine Freunde, die wohnen alle am Hang. Und ja klar, mit den Einheimischen habe ich nicht so viel Kontakt, ich bin ja auch oft im Ausland unterwegs.
Auf seinem Traktor tuckert Carl Müller jetzt zurück in den Wald, zum Holzen. Die Prinzessin ist selten da, sagt er. Manchmal sieht er ihre Kinder im Garten spielen, der Hund schläft gern an der Sonne.
Es ist hier schon wie in St. Moritz, so Müller, viele Ausländer, wochenlang nicht zu Hause, immer in der Welt unterwegs. Ihre Wohnungen und Villen stehen dann leer. Die sind einfach anders als wir.