Mit beiden Beinen im Leben

Publiziert: 07.01.2006 um 15:45 Uhr
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Aktualisiert: 06.09.2018 um 19:21 Uhr
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Marie Pohl

von Marie Pohl (Text)
und Doris Flubacher (Foto)


Was werden, wenn die Eltern Schauspieler sind? Bloss nicht dasselbe, dachte sich die Tochter und wurde Kostümassistentin am Theater. Dort aber gab es für sie kein Halten mehr, sie wollte selber auf die Bühne. Und steht heute als gefeierter Nachwuchsstar im Rampenlicht

Solothurn 2004: Der Kinofilm «Strähl» hat Premiere und Johanna Bantzer sieht sich selbst zum ersten Mal auf einer Kinoleinwand. Solothurn 2005: Johanna Bantzer erhält für ihre Rolle der Carol in «Strähl» den Schweizer Filmpreis. Solothurn 2006: wieder eine Filmpremiere – «Havarie» von Xavier Koller; neben ihm seine Hauptdarstellerin, Johanna Bantzer.

Sie ist reifer geworden in diesen drei Jahren. Das trotzige Junkie-Mädchen aus «Strähl» ist heute eine zielstrebige «Greenpax»-Aktivistin auf den Spuren einer dubiosen Ölfirma, und ihr Regisseur kein Erstlingswerkler, sondern Oscar-Preisträger. Die Arbeit mit Manuel Flurin Hendry an «Strähl» war Low Budget, wild und improvisiert. Das zehn Mann kleine Team drehte ohne Polizeischutz mitten im Geschehen der Zürcher Langstrasse und schöpfte aus dem Chaos seine Kraft. Ganz anders die Arbeit mit Xavier Koller: Am Set von «Havarie» warteten Stuntmen aus L. A., wurden Autos Berghänge hinuntergestürzt und aus dem Zugersee gefischt, eine Zehn-Mann-Spezialeinheit der Schweizer Polizei engagiert, um eine Villa zu stürmen und der blutüberströmten Beatrice alias Johanna Bantzer das Leben zu retten. Xavier Koller fand in seinem technisch aufwändigen Krimi trotz Verfolgungsjagden und Kampfsequenzen immer noch Geduld für die Schauspielkunst. «Er hat alles so perfekt vorbereitet», sagt Johanna Bantzer, «dass er dir, sobald du am Set warst, seine ganze Konzentration und Aufmerksamkeit widmen konnte. Es ist toll für einen Schauspieler, so zu arbeiten.»

In Basel führt sie mich den Rhein entlang. Der Wintergeruch heisser Marroni strömt mir entgegen, ich würde ihn am liebsten in meinem dicken Schal einfangen und an diesem eisigkalten Tag auf den Spaziergang mitnehmen. Johanna kuschelt sich in ihr «Wohnzimmer», wie sie ihren Wickelmantel nennt, und erzählt voller Leidenschaft und Faszination von ihrem Beruf: «Es ist ein Spagat, den du als Schauspieler machst. Du musst dich immer wieder auf einen neuen Regisseur, neue Kollegen, neue Konflikte einlassen und dabei trotzdem hinter dem stehen, was du spielst. Du bist Teil eines Gemäldes, nicht der Maler. Aber die Unterschiede der einzelnen Gemälde sind es, was mich reizt.»

Johanna hat drei Filme gedreht und am Basler Theater an die zwanzig Stücke gespielt. Letztes Jahr war sie die Schauspielerin mit den meisten, mit 130 Vorstellungen. Ein unglücklich verliebtes Bauernmädchen, eine Medizinstudentin, die Sterbehilfe leistet, eine bebrillte Grundschullehrerin, die sich durch Lügen interessanter machen will, oder – was sie besonders genoss – Peter Pan, «der immer spielt und deshalb alles darf». Manchmal fällt es Johanna leichter, in eine Rolle hineinzuschlüpfen, als «da wieder rauszukommen».

Im Rhein glänzt die goldene Nachmittagssonne. Die Möwen plärren und konkurrieren mit läutenden Kirchturmglocken und einem Tram, das klingelnd auf einer der Brücken steht. Johannas legendäre Schreie als Carol in «Strähl» könnten alles übertönen: Faszinierend, wie glaubhaft sie die Polizisten anbrüllt und später im Heroinrausch zusammensinkt, und das obwohl sie niemals Drogen genommen hat, niemals kriminell war. Umso deutlicher wird einem bewusst, was für eine grandiose Schauspielerin dieses Mädchen ist.

Johanna Bantzer ist 27 Jahre alt und wirkt trotz der vielen Schicksale, die sie verkörpert, sehr bei sich. Wenn sie ihren Kopf frei machen will, geht sie hier am Rhein spazieren, oder sie kocht, oder sie malt. «Ich habe gerade mein erstes Tagebuch gefunden. Da war ich acht und hab geschrieben: Ich will Schauspielerin, die in ihrer Freizeit malt, werden.» Sie lacht: «Das hatte ich total vergessen!»

Als Tochter zweier renommierter Theaterschauspieler, Annemarie Kuster und Christoph Bantzer, wollte die eigensinnige Johanna auf keinen Fall in die Fussstapfen ihrer Eltern treten. «Vielleicht weil es alle von mir erwartet haben, musste ich es später für mich selbst neu entdecken.» Während der Schule besuchte sie Abendkurse an der Bildkunst-Akademie, um eine Mappe für «Kostümbild» vorzubereiten.

Zu dieser Zeit lebte Johanna in Deutschland. Ihre Eltern waren von Zürich ans Thalia Theater nach Hamburg gegangen. Johanna war sieben Jahre alt. Sie wuchs an der Elbe auf. «Ich liebe Flüsse», sagt sie, «sie geben mir ein Gefühl von Freiheit, weil ich weiss, dass sie wohin ziehen, zum Meer, in die Ferne.» Ein Jahr vor dem Abitur brach sie gegen den Rat ihrer Lehrer die Schule ab. «Ich wollte eh nicht studieren», erzählt sie und eine Zahnlücke blitzt auf, in der ihr ganzer Eigensinn zum Vorschein tritt. Ein paar Monate später war sie durch Zufall, Glück und harte Arbeit Kostümassistentin in Zürich. Und da wurde plötzlich der Wunsch, den sie mit acht Jahren ins Tagebuch geschrieben hatte, wie das schlafende Dornröschen wachgeküsst. Jede freie Minute schlich sie sich aus der Kostümwerkstatt zu den Proben, beobachtete die Arbeit des Regisseurs mit den Schauspielern, lauschte den Diskussionen über die Figuren und konnte am Tag der Premiere das ganze Stück auswendig. Vielleicht ein Wink des Schicksals, dass es «Die heilige Johanna der Schlachthöfe» hiess. «Ich hab gedacht, Kostüme kann ich auch mit 30 machen. Nur das Schauspielern muss ich jetzt probieren, sonst werd ich es später sehr bereuen.»

Sie bewarb sich an Schauspielschulen, wurde in München nicht genommen und sprach umso willensstärker in Zürich vor, wo sie die folgenden vier Jahre verbrachte. Nebenbei ging sie kellnern, das tat sie in ihrem Drang nach Unabhängigkeit schon seit dem 14. Lebensjahr. «Wenn du den ganzen Tag Gespräche über Kunst führst und alle sich dabei unheimlich wichtig nehmen, tut es gut, Teller zu tragen, weil du merkst, darum geht es im Leben: Der Mensch muss essen und trinken.»

Johanna hatte die Schauspielschule noch nicht beendet, als sie bereits anfing, «Strähl» zu drehen, und sie hatte den Dreh kaum beendet, als das Theater Basel sie engagierte. «Aber das wollte ich ja! Arbeiten. Arbeiten. Arbeiten.» Dann kam «Strähl» in die Kinos und Johannas harte und leidenschaftliche Arbeit wurde belohnt: Sie erhielt den Max-Ophüls-Preis für die beste Nachwuchsdarstellerin, den Schweizer Filmpreis, den Theaterpreis der Armin-Ziegler-Stiftung und wurde für das Jahr 2005 zum Schweizer Shootingstar ernannt.

«Guck mal!» Wieder blitzt die eigensinnige Zahnlücke. Sie bleibt stehen. Da steigt ein Mann aus dem Wasser. Knallrot. Er war im Rhein baden. In dieser Jahreszeit. Johanna lacht und ich denke, wie schön sie ist, so erwachsen, so selbstbewusst, so professionell und doch wie ein Kind voll Neugierde und immer wieder überrascht.
Die Lust am Erzählen hat sie nicht verloren, obwohl sie als Shootingstar dutzende Interviews geben musste. «Ich wurde oft gefragt, was ich mir davon erhoffe», sagt sie und wickelt sich tiefer in ihr «Wohnzimmer» ein, «ob ich glaube, durch die Presse- und Festivalauftritte mehr Angebote zu bekommen. Aber das ist ein Glücksspiel, wenn du das Gesicht hast, was ein Casting-Agent gerade sucht, hast du gewonnen, wenn nicht, dann nicht. Spannend an den Festivals ist zu sehen, wie der Laden so läuft, sind die Filme und die Abenteuer, die man nebenbei erlebt.»

Am verrücktesten war es in Portugal auf dem Filmfest von Setubal, ein kleiner Ort in der Nähe von Lissabon. An dem Tag, an dem Johanna «Strähl» präsentierte, fand in Setubal das Endspiel der portugiesischen Fussballliga statt. Vitoria Setubal gegen den Favoriten Benfica Lissabon. Natürlich war niemand im Kino. Auch Johanna stahl sich aus den Filmsälen in die Kneipe, um das Spiel zu sehen. Ein Wunder: Zum ersten Mal seit 1967 gewann Vitoria Setubal den Pokal. Fiesta! Aber sie durfte nicht lange mitfeiern, hetzte durch die dichten, tanzenden Mengen zu einem Fernsehauftritt. «Niemand wusste genau, was das eigentlich für eine Show war, nur dass der Moderator Deutscher war und Herman the German hiess.» Im Fernsehstudio dachte Johanna, sie sei in einem Fellini-Film gelandet. Zwischen fuchtelnden Technikern und hektischen Aufnahmeleitern rannten völlig überschminkte Gestalten herum, machten Tänzer Dehnübungen, wurden Zauberstäbe poliert und in ihrer Garderobe übte ein Mann, der einen riesigen Plastikschwanz auf dem Kopf trug, seinen Sketch. Die Show selbst war «eine verkitschte Mischung aus ‹Thomas Gottschalk›, ‹Harald Schmidt› und ‹Samstagnacht›.» Über eine rosarote Plüschtreppe wurde der Shootingstar zu Herman the German geführt und vor laufenden Kameras begrüsst.

Sie lacht: «Obwohl er nicht so ernst zu nehmend aussah, war er wirklich ein guter Moderator. Er holte innerhalb weniger Minuten aus jedem Gast etwas raus.» Johanna fragte er, wer ihre Lieblingsschauspieler seien. Wieder lacht sie: «Da hab ich gesagt: meine Eltern.»

Wir wollen uns aufwärmen, die Kälte ist durch die Nähte meines Schals und die Ritzen von Johannas «Wohnzimmer» gedrungen. Wir gehen in den «Schmalen Wurf». Johanna erinnert dieses Café an Ali Klieber, ein wunderbarer Schauspieler, der letztes Jahr an seiner Heroinsucht gestorben ist. «Das habe ich schon als Kind begriffen, mit meinen Eltern in der Kantine, es kann ein selbstzerstörerischer Beruf sein. Nicht umsonst siehst du da so viele Alkoholiker. Du bist täglich mit Konflikten anderer Menschen konfrontiert und musst aufpassen, dass du dich dabei nicht verlierst.»

Aber bei ihr hat man diese Sorge nicht. Ihr Eigensinn, ihre Neugierde und ihre unermüdliche Lebenslust beschützen sie. Vielleicht auch das Malen? Während wir uns unterhalten, porträtiert sie die Gäste im Café – auf einer Serviette.

Drei Jahre hat sie jetzt in Basel gelebt, geliebt und gespielt. Im Sommer 2006 geht Johannas Engagement zu Ende. Sie wollte den Vertrag nicht verlängern, es ist Zeit weiterzuziehen. Wohin wird ihr Lebensfluss sie tragen? Will sie weiter auf der Bühne stehen? Oder will sie nur auf die Leinwand? Zurück nach Deutschland? Oder in der Schweiz bleiben?

«Wo ich leben werde, weiss ich noch nicht. Es hängt von den Angeboten ab. Ich will versuchen, beides zu machen, Theater und Film. Theater ist Ensemble-Arbeit. Beim Film bereitest du dich alleine vor. Wenn du ans Set kommst, musst du wissen, was du machst. Du hast keine acht Wochen Zeit zum Proben. Du musst schnell sein. Der Kameramann will, dass du eine Banane läufst, der Regisseur, dass du den Satz veränderst, die Beleuchter sind unruhig, weil es dunkel wird, die Produzenten zählen die teuren Minuten, und wenn es ‹Danke› heisst, gibst du alles aus der Hand. Deine Szene verschwindet im Schnitt und du kannst nichts mehr ändern. Wenn du im Theater eine schlechte Vorstellung spielst, gibt es immer einen nächsten Abend.»

Jetzt muss sie aber los, in die Maske. Heute spielt sie die Erika im Bus, eine junge Pilgerin. Sie malt mir auf, wie ich am besten ins Theater komme. Ist es nicht ein Sprung ins kalte Wasser, die Entscheidung, bald eine freie Schauspielerin zu sein, in diesen ungewissen Strom zu steigen, wo sich so viele arbeitslose Schauspieler tummeln?

«Mir gibt es ein Gefühl von Freiheit», sagt Johanna, streift sich ihr «Wohnzimmer» über und reicht mir lächelnd die Hand. Ich erkenne in ihr die Aktivistin aus «Havarie», die unerschrockene, kämpferische Frau, und noch mehr: ein keckes Hochziehen der Augenbraue, ein romantischer Blick zur untergehenden Sonne, ein chaotisches Wühlen in der Handtasche und immer wieder die Zahnlücke. Johanna spielt mit Gesten und Eigenschaften wie ein Künstler mit seiner Farbpalette. Sie sagt, als Schauspielerin ist sie nicht der Maler, sondern nur Teil des Gemäldes, aber ihren Teil, den malt sie selbst. Als sie gegangen ist, entdecke ich auf der Rückseite des Zettels meiner Wegbeschreibung zum Theater eine weitere Bantzer-Zeichnung: der rote Mann am Rhein. Der mutige Schwimmer.

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