Literatur
«Die Holländerinnen»: im Dschungel der Ratlosigkeit und Gewalt

«Die Holländerinnen» ist das vierte Buch der vielfach übersetzten und ausgezeichneten Zürcher Autorin Dorothee Elmiger. In ihrem neuen Roman überlagern sich Krimi, Horror und theatrale Momente zu vielen Fragen an unsere Gegenwart und auch an das Schreiben.
Publiziert: 07:10 Uhr
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Dorothee Elmigers neuer Roman "Die Holländerinnen" führt in den Dschungel als symbolträchtigen Ort für Ratlosigkeit und Gewalt. In seiner Vielschichtigkeit stellt er auch Fragen an unsere krisenhafte Gegenwart - und was das Schreiben dagegen ausrichten kann.
Foto: GEORG GATSAS
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Keystone-SDADie Schweizer Nachrichtenagentur

Dorothee Elmiger ist eine der feinsten Beobachterinnen unserer Gesellschaft. Ihr bisheriges Schreiben war geprägt von einer Gleichzeitigkeit von aktuellen und historischen Fakten sowie fiktiven Schnipseln, von einer Bruchstückhaftigkeit, deren Lücken neue Zusammenhänge erahnen liessen. «Hier arbeitet ein Gehirn, das unsere Mitarbeit will», hiess es zur Nomination für den Schweizer Buchpreis 2020 über ihr letztes Buch «Die Zuckerfabrik».

So überrascht der neue Roman «Die Holländerinnen» mit einem scheinbar konventionellen Fliesstext. Zu Beginn tritt eine kleine, ältere Frau ans Rednerpult und bedankt sich, dass sie als Schriftstellerin heute und in den kommenden Wochen hier sprechen dürfe. Doch statt wie geplant eine poetische Theorie vorzustellen, spricht sie, die als «bedeutende Erzählerin» vorgestellt wird, von einer Reise, die einige Jahre zurückliegt.

Das ist die zweite Ebene des Romans: Mit einer Dokumentartheater-Gruppe verirrte sie sich im tropischen Dschungel auf den Spuren von zwei verschwundenen Holländerinnen. Diese titelgebenden Holländerinnen sind soetwas wie ein Krimistrang in diesem Roman: «Ich finde die These interessant, dass die Beschäftigung von Frauen mit Krimi oder True Crime eigentlich auch aus einem Versuch entspringt, etwas zu verstehen, was man selbst als potenzielle oder tatsächliche Bedrohung wahrnimmt», sagt Elmiger im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA.

Es geht bei Elmiger nicht um die Lösung dieses Kriminalfalls. Was die Autorin an den Holländerinnen interessiert, sei die Verlassenheit, welche in diesem Fall besonders deutlich wird, da die beiden Fotos hinterlassen haben. Erkennbar ist darauf kaum etwas.

Im Roman folgen die «bedeutende Erzählerin» und die Theatergruppe diesen vermeintlichen Spuren immer tiefer in den Dschungel - trotz verstauchter Gelenke, Orientierungslosigkeit und zunehmender Erschöpfung. «Diese Figuren befinden sich allein und verloren im Wald. Das ist eine Konfrontation mit einer Art Natur, die die meisten von uns hier gar nicht kennen, weil wir als Gesellschaft meinen, die Natur zu beherrschen», so Elmiger. «Die Angst vor dem Irrationalen, Unkontrollierbaren ist sehr bezeichnend für unsere ganze Kultur: Dass wir uns trotz aller Fortschritte und Möglichkeiten noch fürchten vor Geistern, vor der Dunkelheit oder vor irgendeinem Wesen mit leuchtenden Augen im Wald.»

Die Versuche, die Natur zu kontrollieren, zu zähmen, sind allgegenwärtig bei Elmiger: beispielsweise in einem Nebensatz zu den «verwaisten Strassen, die die United Fruit Company beinahe hundert Jahre zuvor wie ein Gitter durch das ehemalige Waldgebiet gezogen habe». Solche Schnipsel erinnern auch an die koloniale Vergangenheit.

Spuren der Gewalt macht Elmiger zudem im Gefüge der Theatergruppe deutlich: Der Theatermacher steht in der Hierarchie klar an oberster Stelle, und es ist sicher kein Zufall, dass der sich am Kult-Filmemacher Werner Herzog abarbeitet und sich immer wieder auf dessen Filme «Aguirre» und «Fitzcarraldo» bezieht. Unter anderem schickt er einen Bühnenbildner nach Machu Picchu, um einen Hotelflur auszumessen und zu dokumentieren und um auf dieser Grundlage eine massstabgetreue Kopie zu fertigen.

Elmiger geht es um Fragen der Rücksicht und der Rücksichtslosigkeit und ob Kunst möglich sei, ohne diese gewaltvollen Hierarchien: «Wie vereinbare ich die Tatsache, dass ich völlig verstrickt bin und profitiere von gewissen Verhältnissen, damit, dass ich Texte schreibe, die den Anspruch haben, dass irgendeine Erkenntnis daraus gewonnen werden könnte über möglicherweise bessere Verhältnisse.»

Elmiger wohnt zwischenzeitlich in New York: «Da mein ganzes Leben jetzt in einer anderen Sprache passiert, stellen sich mir viele Fragen zum Schreiben, zum Übersetzen und auch ganz grundsätzlich, wen adressiert man.» Der Eindruck der politischen Ereignisse - nicht nur in den USA -, die aktuellen Kriege und Katastrophen lassen sie eine gewisse Desillusionierung spüren, auch im Hinblick auf das Schreiben, das Verstehen, und die Literatur. Diese Krise trägt Elmigers Erzählerin im Roman in sich: «Diese Ratlosigkeit, die sie spürt, einerseits ausgelöst durch die Geschehnisse im Text, aber auch angesichts des Zustands der Welt in der Gegenwart und der Frage, wie wir schreibend darauf reagieren können, wie man damit umgeht oder nicht, das sind für sie zentrale Fragen - welche die meisten Schreibenden in irgendeiner Form kennen», sagt Elmiger und stellt mit «Die Holländerinnen» dieser Ratlosigkeit einen vielschichtigen, erzählfreudigen und sehr aktuellen Roman entgegen.*

*Dieser Text von Philine Erni, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.

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