Leichen im Keller

Rechtsmediziner sind die neuen Helden der TV-Krimis: Sie sind cool, haben stahlharte Nerven und lösen die kniffligsten Fälle in Sekundenschnelle. Doch wie sieht die Wirklichkeit aus? Zu Besuch im Institut für Rechtsmedizin in Basel
Publiziert: 22.02.2008 um 11:40 Uhr
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Aktualisiert: 06.09.2018 um 19:50 Uhr
Von Claudia Langenegger

Kathrin Gerlach steht am Obduktionstisch: Arztkittel, grüne Operationshandschuhe, das Diktafon aufnahmebereit. Auf dem Marmortisch liegt ein Körper: 175 Zentimeter gross, 87 Kilogramm schwer. Der Mann wurde letzte Nacht in seinem Gartenhäuschen tot aufgefunden. Blut rann aus seiner Nase.

«Jetzt müssen wir herausfinden, woran er gestorben ist», sagt die Oberärztin. Sorgfältig drückt sie auf die rosa verfärbten Flecken auf dem Brustkorb, inspiziert die Finger und versucht, die Ellbogen des Toten zu biegen. Das kühle Neonlicht leuchtet jeden Quadratzentimeter des Leichnams aus.

«Lassen sich die Leichenflecke noch wegdrücken, ist der Tod wahrscheinlich vor weniger als 24 Stunden eingetreten», erklärt sie. Die genaue Uhrzeit kann man nicht angeben. Nie. «Das klappt halt nicht so wie im Fernsehen.» Ein verschmitzter Blick aus ihren Kulleraugen, am rechten Nasenflügel glitzert ein winziger Edelstein.
Dann hebt die Rechtsmedizinerin die Hand des Toten, zeigt auf die Fingerkuppen: «Unter den Nägeln ist die Haut stark rosa. Das deutet auf eine Kohlenmonoxidvergiftung hin.» Der Mann ist also möglicherweise erstickt.

Frank Azzalini, der Präparator, reicht ihr eine Spritze. Sie punktiert die Oberschenkelvene und zieht Blut in die Spritze. Das Röhrchen läuft mit dunkelroter Flüssigkeit voll. Sie füllt damit drei Ampullen ab, versieht sie mit Etiketten und stellt sie in ein Gitternetz – für das Chemielabor. Sie schwenkt eines der Röhrchen nochmals hin und her und wundert sich: «Komisch, bei hohem Kohlenmonoxidgehalt ist das Blut meist viel heller.»

Woran ist der Mann gestorben? Ist er doch nicht erstickt? Hatte er einen Herzschlag?

Pro Jahr untersucht das Institut für Rechtsmedizin (IRM) in Basel um die 300 aussergewöhnliche Todesfälle: Suizide, Tötungsdelikte, Verkehrsunfälle, Operationsunfälle, plötzlicher Kindstod. Menschen, die tot aufgefunden werden. Daheim, draussen. Wie der Mann im Gartenhäuschen.

Der Leichnam verströmt einen intensiven Geruch, ranzig, süsslich. Es stinkt nach Verwesung im Untergeschoss des IRM. Wie hält die Ärztin das aus, tagtäglich? «Durch den Mund atmen», sagt sie. Eine stark riechende Creme unter die Nase streichen? «Nützt nichts», meint sie schmunzelnd, «das ist ein Gerücht.»

Heute führt ihr Chef Roland Hausmann die Sektion durch, Azzalini assistiert. Kathrin Gerlach nimmt den Befund auf. Die Obduktion beginnt. Der Chefarzt schneidet mit dem Skalpell den Oberkörper des Leichnams auf. Ein langer Schnitt, schnell, präzis. Unter der rosa Haut eine Schicht Fett, gelblich. Er zieht die Haut auseinander. Azzalini knipst mit einer grossen Schere sorgfältig die Rippen ab und entfernt das Brustbein.

Der Arzt greift in den Brustraum, entnimmt das erste Organ: das Herz. Er legt es auf den Präparationstisch, schneidet ein winziges Stück heraus, begutachtet es, klemmt es mit der Pinzette fest und lässt es sorgfältig in den Formaldehydbehälter plumpsen. Danach geht es weiter mit Lunge, Niere, Leber, Milz, Darm.

Der Präparator schöpft Blut aus dem Brustkorb, Urin aus der Blase, spritzt mit der Duschbrause laufend den Marmortisch ab. Er wiegt die einzelnen Organe, sägt die Schädeldecke auf, entnimmt das Hirn, putzt mit dem grossen gelben Schwamm den Schädel aus.

Derweil spricht Gerlach auf Band. Das Aufnahmegerät dicht vor dem Mund, diktiert sie alles, was ihr geübter Blick sieht. Sie spricht schnell, ohne Unterbruch, ohne zu stolpern. Wie im Film.

Gerlach sieht jetzt aus wie Dana Scully, die FBI-Agentin aus der Serie «Akte X», ebenfalls Forensikerin. Dieselben rötlich schimmernden Haare, die gleiche Ernsthaftigkeit. Bloss: Hier gibt es keine Ausserirdischen, die untersucht werden. Alles ist real.

Die drei arbeiten routiniert, fast wortlos, jeder Handgriff sitzt. Nach eineinhalb Stunden ist die Obduktion vorbei. Jedes Organ ist gewogen, nach Besonderheiten abgesucht, eine Probe herausgeschnitten. Frank Azzalini näht den Brustkorb zu, schliesst den Schädel. Keine Spur ist mehr zu sehen, übrig bleibt nur die Naht längs über den Bauch und am Hinterkopf.

«Obduktionsende fünfzehn Uhr zwanzig. Unterschrift: Gerlach, Hausmann», diktiert die Ärztin, stoppt die Aufnahme, legt das Gerät auf die Chromstahlablage, wirft ihre Latex-Handschuhe in den Abfalleimer und fragt: «Gehen wir Kaffee trinken?»

Im Pausenraum – ein gut geheizter Raum mit Kochnische, grossem runden Tisch, Grünpflanzen und Kunstpostern an den Wänden – gibts Kaffee und Schokoladekugeln.

Die Ärztin erzählt von Fällen, die spannend waren wie im Krimi. Vom bizarrsten Fund ihrer Laufbahn: ein Skelett. Der Mann hatte mehr als ein Jahr tot in seiner Wohnung gelegen. Sie spricht davon, wie schlimm Kinderleichen sind. Immer. Für alle. Und erinnert sich an ihren ersten Fall, eine junge Frau. «So jung, und niemand hat sie vermisst. Das hat mich lange beschäftigt.»

Sie erzählt, wie ihr Beruf immer wieder Faszination und Abscheu auslöst. Und davon, dass andere Mediziner – wie etwa Chirurgen – gerne spotten: «Ihr wollt Ärzte sein?! Ihr kommt doch immer erst dann, wenns zu spät ist.»
Solche Sticheleien nimmt sie gelassen: «Wir geben den Verstorbenen eine Stimme», sagt sie, «kümmern uns um sie, wenn es die anderen Ärzte nicht mehr tun.» Die Toten haben ein Recht auf die Wahrheit: «Das sind wir ihnen schuldig.»

An der Pinwand in ihrem Büro hängt der Spruch: «Leichen sind Menschen wie du und ich, nur tot.» Makaber? Nein. Denn die Gerichtsmedizin ist nicht die normale Welt, da drin herrschen andere Regeln als draussen. Gerlach erklärt es so: «Hier ist es normal, dass Haut, die ich berühre, kalt ist.»

Am nächsten Morgen: Monatsrapport. Die beiden Assistenten sind nicht dabei. Sie mussten ausrücken. Suizid. Ein Mann ist vor den Zug gesprungen.

Der erste Fall: eine alte Frau. Sie wurde gestern Abend gefunden. Sie muss schon mehrere Tage tot im Bett gelegen haben: dunkle Leichenflecken, schwarzbraune Fäulnisflüssigkeit an den Druckstellen am Rücken. Die Fotos von der Wohnung: stapelweise leere Katzenfutterdosen in Küche, Gang, am Boden. Überall Zeitungen, leere Flaschen.
Weitere Fälle werden gezeigt. Gerlach schaut hin, hört zu, alles Routine. Nur beim Foto einer verunfallten Töfffahrerin hält sie sich erschrocken die Hand vor den Mund.

Zum Schluss die Resultate aus dem Labor. Der Mann aus dem Gartenhäuschen hatte 64 Prozent Kohlenmonoxid im Blut – normal wären weniger als zehn Prozent.
Todesursache ist also ein Sauerstoffmangel im Gehirn. Er ist erstickt.

Wie konnte das passieren? War der Ofen defekt? Wenn ja, war es ein Unfall? Das muss nun die Polizei abklären. Der Leichnam wurde heute früh freigegeben. Die Angehörigen holten ihn ab. Im kargen, ungeheizten Durchgangszimmer zwischen Obduktionssaal und Kühlraum haben sie eine kleine Trauerfeier durchgeführt.

Ihre Trauer wiegt schwer, doch sie sind froh, Gewissheit zu haben, woran ihr Bruder, Ehemann, Vater und Onkel gestorben ist.

«Als Rechtsmediziner brauchst du grosses Abstraktionsvermögen», sagt Roland Hausmann mit seiner tiefen, knarzigen Stimme. «Während der Sektion musst du den Menschen komplett ausblenden, sonst stehst du das nicht durch.»

Nur einmal ist Gerlach komplett zusammengebrochen, hat jede professionelle Distanz verloren. Auf dem Marmortisch im Obduktionssaal lag ein Bekannter von ihr, ein Polizist. Im Einsatz erschossen. «Ich bin augenblicklich in Tränen ausgebrochen.» Hat ihr Beruf sie verändert? «Ich bin viel gelassener als früher», sagt sie. Mit Familie und Freunden versucht sie, immer im Frieden auseinander zu gehen, schiebt nichts auf die lange Bank. Fast nichts: «Ich will endlich mal eine lange Tour durch Island machen, davon träume ich schon lange.»

Im Obduktionssaal liegt nun die alte Frau, die am Vorabend in ihrer Wohnung aufgefunden wurde. Gelbe Füsse lugen unter dem Stoff hervor. Die Nägel sind lang und braun – wachsen sie nach dem Tod weiter?» Ein Lächeln auf Gerlachs Gesicht. «Das meinen alle», sagt sie. Stimmt aber nicht. Es ist die Haut, die sich zusammenzieht, weil Wasser im Körper verdunstet.

Azzalini zieht das Tuch vom Körper weg. Wieder dieser intensive Leichengeruch. Er setzt sich in den Kleidern fest, in sämtlichen Poren, bleibt in den Haaren hängen. Heute tragen alle grüne Wegwerfkleider aus Papier.

Wie kam die lebenslustige Frau bloss darauf, Rechtsmedizinerin zu werden? Etwa wegen Agentin Scully aus «Akte X» oder den TV-Helden aus «CSI Miami» und «Autopsie»?

«Ich habe gar keinen Fernseher», sagt sie, «Viel lieber lese ich.» Aber es war auch keine Krimiheldin, die sie zu ihrem Beruf gebracht hatte, «es war reiner Zufall». Während des Studiums suchte sie eine Praktikumsstelle. In der Pathologie war nichts frei, in der Rechtsmedizin schon. «Auch gut», hatte sie gedacht. Es war jedoch mehr, viel mehr: «Ich habe mich sofort in den Beruf verliebt.»

Gerlach spricht klar, unterstreicht ihre Worte oft mit Handbewegungen, versprüht Begeisterung. Man spürt ihre Leidenschaft.

Diesen Beruf kann man nicht einfach so machen, schon gar nicht zur Befriedigung des eigenen Egos. Es gibt hier auch keine ruhmreiche Karriereleiter zu erklimmen. Rechtsmediziner sind keine Halbgötter in Weiss.

Neidisch sind Gerlachs Kolleginnen von Polizei und Staatsanwaltschaft aber trotzdem. Weshalb? Wegen ihrem Chef, Roland Hausmann! Stahlblaue Augen, blondes Haar, brauner Teint. «Er sieht aus wie James Bond», schwärmen sie.

Im IRM Basel ist es halt doch ein bisschen wie im Film – mit den Agenten Gerlach und Hausmann. Bloss, dass sie die Fälle nicht in Sekundenschnelle lösen, nicht im Alleingang. Und nach der Arbeit beginnt jeweils das ganz normale Leben. Jeden Tag aufs Neue.

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