Wohin verschwinden Schweizer Jugendliche, wenn sie am Freitag mit ihren Computern das Elternhaus verlassen? In einen Drei-Tage-Krieg namens LAN-Party. Zur grössten Schlacht des Jahres rückten am vergangenen Wochenende 1100 Cyber-Kids in den Zürcher Flughafen Kloten ein. Sie+Er versuchte beim Frontbesuch, die Realität nicht aus den Augen zu verlieren
Text NINA HERMANN
Fotos PASCAL MORA
Flughafen Zürich, 4.45 Uhr am Sonntagmorgen. Michaela ist so müde, dass sie kurz glaubt, es sei alles ein Traum: die arabischen Fundamentalisten, die eben eine Zeitbombe gelegt haben und die Antiterroreinheit, der sie selbst angehört. Sie stürmt aus den Katakomben, schmeisst eine Blendgranate, ballert die Terroristen über den Haufen und entschärft die Bombe. «Counter-Strike» (Gegenschlag) heisst das Spiel zur Heldentat, das vielleicht beliebteste Computerspiel der Welt.
Im Schein des Flachbildschirms beginnen sich die weichen Gesichtszüge unter der Baseballkappe des Mädchens wieder zu regen. Die sechzehnjährige Solothurnerin schaut sich um: Schade, ihre Jungs haben den grandiosen Schlag nicht mitbekommen. Sie sind unterwegs in der lang gezogenen Flughafenhalle oder schlafen schon, eingekuschelt in Schlafsäcke neben ihr unter den Tischen. Auch wenn die Klimaanlage hochtourig läuft: Es riecht nach LAN-Party – nach Schweiss und heiss gelaufenen Rechnern.
LAN steht für Local Area Network und bezeichnet Treffs, bei denen Leute über ein lokales Netzwerk ihre mitgebrachten Heimcomputer miteinander verbinden und mit ihren «Clans», den Mannschaften, gegeneinander antreten. In der Nacht zuvor hat sich Michaela nur ein Stündchen Schlaf gegönnt. Seit über 40 Stunden läuft am Zürcher Flughafen im stillgelegten Dock B die «Airplane». 1100 Spieler sind gekommen, die meisten männlich und in jenem Alter, in welchem Mann noch mit Pickelproblemen zu kämpfen hat.
In diesen frühen Morgenstunden sind etliche Krieger an den langen Tischreihen über der Tastatur eingenickt. Andere hängen noch an der Maus, kämpfen in «Counter-Strike» und «World of Warcraft» ums Überleben oder im «Fifa 2006»-Spiel um den Ball. Zwei Jungen schlurfen in Badeschlappen an Michaelas Tisch vorbei: «Nachm nächsten Spawn hab ich dann nur geheaddered beim Rushen», übermittelt der eine gerade dem anderen, welcher sich beeindruckt zeigt. Jenseits der Virtualität hätte die Mitteilung geheissen: «In der nächsten Runde habe ich während des Sturmangriffes nur Kopfschüsse abgefeuert.»
Ist sie das also, unsere schreckliche Jugend, die bei nächtelangen Computerspielen ihr Hirn verballert? In einer Parallelwelt gefangen und in der Realität nicht mehr zu Hause? Aggressiv und einsam wie der deutsche «Counter-Strike»-Fan Robert Steinhäuser, der in einem Erfurter Gymnasium ein Blutbad anrichtete? In der Schweiz verbringen die 12- bis 14-jährigen Jungs und Mädchen im Schnitt täglich 42 Minuten mit Computerspielen, wie eine Untersuchung der Universität Zürich zeigt. Am liebsten mit den sogenannten Ego-Shootern à la Counter-Strike, bei denen der virtuelle Kampf aus der Ich-Perspektive wahrgenommen wird.
«Ich war immer eher die Brave, die daheim blieb. Ich hatte richtig Angst davor, auf die Strasse zu gehen», erzählt Michaela. «Mit zwölf habe ich dann angefangen zu zocken: ‹Unreal Tournament›. Wirklich jede freie Minute und am Wochenende sass ich von morgens bis abends vor dem Computer. Und weil ich bald richtig gut spielte, haben mir die Leute echten Respekt entgegengebracht. Das hat mich total aufgebaut. Und dann kam auch noch die Liebe dazu.»
Aus «Unreal Tournament» wurde wahre Liebe
Ein Junge aus ihrem Clan hatte ihr ein Mail geschrieben: «Du spielst wirklich gut, woher kommst du?» Er kam aus Deutschland. «Wir haben uns einige Wochen gemailt, dann waren wir zusammen.» Ohne sich je gesehen zu haben? «Haben wir doch, wir haben uns extra Webcams für unsere Computer gekauft.» Ihre Mutter konnte das alles zwar nicht mehr verstehen, fuhr aber in den Sommerferien die dreizehnjährige Tochter von Solothurn ins Schwabenland. «Als er dann wirklich vor mir stand, war das so schön, dass ich beinahe umgefallen bin.»
Das zierliche, braunhaarige Mädchen strahlt. Aus «Unreal Tournament» wurde wahre Liebe – auch wenn die mit dreizehn noch nicht so lange hält. Mit ihrem zweiten und letzten Freund kam sie auch über den Clan zusammen. Jan, 17, wiederum kennt sie aus «irgendeinem normalen Internet-Chat». Mit ihm, «nur so ein guter Kollege», ist sie bei der «Airplane», fiebert bei den Kämpfen seines Clans «reloaded» mit und trainiert und trainiert, weil sie jetzt auch auf «Counter-Strike» umsteigen will. «Jan und der Squad-Leader haben gesagt, ich spiele schon richtig gut», lächelt sie stolz.
Der «Squad-Leader» (Truppenführer) von «reloaded» legt gegenüber an der «SingStar»-Maschine im Karaoke-Duett mit einem Kämpfer der «Broken Arrow» eine unheimlich gefühlvolle Version des Rock-Klassikers «Smoke on the Water» hin. Aggressiv, so weit überschaubar, wirkt hier keiner. Im Gegenteil: Die Sittsamkeit der 1100 Teilnehmer, die gekommen sind, um sich gegenseitig abzuballern, ist fast schon merkwürdig. Strikt halten sie sich an das Rauchverbot, und keiner hat bislang die verlockenden roten Knöpfe an den Notausgängen gedrückt, vor denen die Veranstalter bei der Begrüssung warnten: Ein Knopfdruck löse die polizeiliche Abriegelung des gesamten Flughafens aus.
Regeln sind wichtig, das weiss Robin nur zu genau – ein «Counter-Strike»-Team ist streng hierarchisch strukturiert und Robin ist schliesslich Truppenführer bei «reloaded». Mit sieben hat er an Papas Konsole angefangen, zehn Jahre später legt er die Taktik für sein fünfköpfige Team fest, die in den Trainingszeiten einstudiert werden: Täglich zwischen 19.30 und 22.00 Uhr, ausser mittwochs, und sonntags stehen die Liga-Spiele an. Sie haben grosse Ziele: Bei der Qualifikation zu den diesjährigen World Cyber Games in Monza (I) sind sie nur knapp gescheitert.
Manchmal ist es für den siebzehnjährigen Robin aus Cham ZG schon ein bisschen nervig, wenn sein Team zu Matchbeginn nicht vollzählig ist, er den Mitkämpfern aus dem Aargau oder Zürich hinterhertelefonieren muss, und nicht selten zu hören bekommt, dass die Mutter den Sohn noch nicht vom Nachtessen freigibt.
Robin, der schmächtige, blonde Schüler mit der schwarzen Brille und der szenetypischen Blässe, ist ein Typ, der seinen Trainingsanzug nicht wegen der Coolness, sondern aus Bequemlichkeit trägt. Markenklamotten besitzen unter «Gamern» längst nicht die Statusfunktion wie etwa bei den Pseudo-Gangstern, den Schweizer Hip-Hoppern. Könnte für Selbstbewusstsein sprechen oder aber auch dafür, dass die Marke im Hier nicht so wichtig ist, wenn man doch die meiste Zeit im Dort verbringt. «Gamen kann bei einzelnen Leuten zu Realitätsverlust führen, bei denen, die immer allein spielen», erklärt Robin als alter Hase.
Der erste Griff gilt «Bomba»
Als draussen auf der Landebahn schon die ersten Flugzeuge abgehoben haben, schlafen auch Robin und Michaela. Wenig später tönt aus der Lautsprecheranlage der Aufruf zum ersten morgendlichen «War». Der erste Griff vieler schlafwandlerisch Erwachender gilt einem Engergydrink namens «Bomba».
Dritter und letzter Tag. Nachdem die Jungs von «reloaded» wieder auf den Beinen sind, verabreden sie sich zu einem spontanen «Fun War», einem Freundschaftsmatch, gegen einen deutschen Clan von den Tischen schräg gegenüber. Alle hocken übermüdet aber hochkonzentriert vor ihren Flachbildschirmen. «Fire», sagt Squad-Leader Robin, so lautet eine der zwölf taktischen Spielzüge, die er ausgetüfftelt hat. Jeder weiss sofort, wo er sich zu positionieren hat und wie der Schlachtplan aussieht. Aus Sichtperspektive der schwer bewaffneten Krieger gehts für die Jungs ins Gemetzel.
Taktik, vorausschauendes Denken, Reaktionsgeschwindigkeit und Teamgeist werden entscheiden. «Nice», rufen plötzlich die «reloaded»-Kämpfer und beklatschen sich. Ansonsten nur knappe Mitteilungen: «Defuse it», «Ich hab kein Geld mehr», «Frag it» und immer wieder befeuernde «Nice»-Rufe, bis der Match nach einer knappen Stunde gewonnen ist.
Was ist die Faszination? «Dass man zusammen mit dem Team was erreichen will, sich gemeinsame Ziele setzt», erklärt Clan-Mitglied Jan. «Da sind richtige Emotionen dabei. Wenn einer im Team gut spielt, baut das alle wieder auf.» Ausserdem hat der Zürcher über den E-Sport – das wettbewerbsmässige Spielen von Computer- oder Videospielen – «bestimmt 300 bis 400 Leute kennengelernt».
«Zocken ist eine Sucht»
Von Teamgeist und Motivation reden die Mitglieder von «reloaded» übrigens alle, als seien sie darauf programmiert. Sie haben die Zukunft fest im Blick, sie träumen von einer Profi-Karriere: In Südkorea gibt es bereits Fernsehkanäle, die ausschliesslich über E-Sport berichten. Die besten Spieler werden wie Popstars umjubelt und mit Geld überhäuft. Grosse Matches ziehen bis zu 100 000 Zuschauer vor die Leinwände in den Arenen. «In zehn Jahren», schätzt Polytechnik-Lehrling Jan, «ist der E-Sport bei uns so verbreitet wie der Fussball. Dann ist richtig viel Geld damit zu machen.»
Der Weg dahin besteht aus Training, Training, Training. «Zocken ist auf jeden Fall eine Sucht. Deshalb halte ich mittlerweile meistens ein Limit von zwei Stunden am Tag ein», sagt Michaela. Truppenführer Robin spielt «am Wochenende bei schlechtem Wetter» bis zu zehn Stunden: «Der Nachteil ist, dass ich oft die Welt herum und auch Verabredungen vergesse. Und in der Schule will ich nicht unbedingt eine sechs erreichen, eine fünf tut es für mich auch.» Teamkollege Vladimir, 16, sieht an seiner Leidenschaft für Computerspiele «eigentlich nur Gutes: Durch die internationalen Spiele habe ich Englisch und Hochdeutsch gelernt».
Unterschiedliche Ansichten präsentiert auch die Wissenschaft: Spiele wie «Counter-Strike» schüren die Gewalt-bereitschaft und machen stumpfsinnig, sagen die einen Forscher, sie fördern Selbstvertrauen, Teamwork und Flexibilität halten die anderen dagegen.
Um 14 Uhr geht in der dämmrigen Flughafenhalle die Deckenbeleuchtung an. Sofort beginnen die Mitglieder von «reloaded» wie Hunderte andere Kämpfer, ihre Schlafsäcke, Isomatten, Rucksäcke, Rechner und Bildschirme auf Gepäckwagen zu verladen. Die Eltern warten.
Draussen nieselt es, komisch, zuletzt, am Freitag, schien die Sonne. Die Jungen verabschieden sich mit der Ermahnung, nicht zu verschlafen, «um 20 Uhr geht es los». Am Abend steht das nächste Liga-Spiel an. «Na, das wollen wir doch mal sehen», kommentiert die Mutter von Jan mit strengem Blick auf seine müden, von dunklen Ringen untermalten Augen. Aber natürlich hat Jan am Abend gespielt.