Auf einmal lichtet sich der Wald und auf dem Feld steht ein Mann mit Bart und Wanderschuhen, ansonsten nackt. Mit dem Wasserschlauch in der Hand giesst er seinen Kartoffelacker und grüsst die Besucher freundlich. Willkommen im Tal der Elfen.
In der Verlassenheit der Kastanienwälder zwischen Bologna (I) und Florenz haben sich Aussteiger aus ganz Europa niedergelassen. Leute, denen das von Geld und Stress beherrschte Leben zu viel geworden war. Auch aus der Schweiz haben sich einige aufgemacht, in den Bergen von Sambuca Pistoiese ihre eigene Kultur zu entwickeln.
Die Wanderung durch das Tal der Elfen soll an diesem warmen Aprilmorgen nach Aldaio führen, einem kleinen Weiler auf 937 Meter über Meer. Der Mann mit den Wanderschuhen und dem Wasserschlauch zeigt, wo der Trampelpfad weitergeht. Vorbei an zwei Eseln und einer im Gras ruhenden Kuh gelangt man schliesslich zum Weiler. Ein paar Häuser aus Stein, wie in einem alten Tessiner Dorf, schmiegen sich an den Hang. Im Gemeinschaftsgarten steht Roberto zwischen den Zwiebeln und zieht eine Furche, um Karotten zu säen. Er stützt sich auf die Hacke, wischt sich den Schweiss aus dem Gesicht und beginnt zu erzählen. Von den 17 Jahren, die er nun schon hier lebt. Von den garstigen Wintern («nur wenige halten durch»), den allerlei Leuten, die hier leben («aus Argentinien, Finnland, Spanien, der Schweiz und Russland werdet ihr Leute treffen»). Und vom Kommen und Gehen («Tausende haben schon im Tal gelebt und Tausende sind auch wieder gegangen»). Doch wo sind sie, all die Leute, die hier leben? «Bei Ignazio, beim Singen», antwortet Roberto und zeigt den Weg.
Der Pfad führt an weiteren bewohnten Steinhäusern vorbei. Bis in die Fünfzigerjahre hatten hier toskanische Bauern gehaust, bis sie im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg die Täler verliessen und in die Städte abwanderten. Mitte der Siebzigerjahre entdeckten die ersten Aussteiger die in der Zwischenzeit halb verfallenen Häuser und Ställe. Die Gegend schien ihnen ideal, um Konsum, Kapital und Hektik zu entfliehen. Die erste Kommune entstand: Gran Burrone, Grosse Schlucht, benannt nach dem Dorf im Buch «Herr der Ringe». Heute sind die 150 Elfen, wie man sie in der Gegend nennt, auf über 15 Weiler im Tal verteilt. An Lebensformen ist von der bedingungslosen Gemeinschaft in Feld und Haus bis zum komplett isolierten Einsiedlerleben die ganze Palette zu finden. Doch ganz ohne Struktur kommt auch das Tal der Elfen nicht aus: Jedes Dorf verwaltet sich selbst, grosse Entscheide werden vom «Rat des Tals» gemeinsam gefällt. Jeweils bei Vollmond treffen sich alle zu einem gemeinsamen «Festa della luna».
Die akkurat gehaltenen Geranien vor Ignazios Haustüre könnten ebenso vor einem 08/15-Reihen-Einfamilienhaus stehen. Doch Form und Bauart seiner Bleibe haben mit Norm und Durchschnitt nicht viel gemein und sind auch im Tal selbst eine Ausnahme: Hier haben sich also die Elfen getroffen, um gemeinsam Lieder zu singen. Sie sitzen im Kreis, ein paar Babys, ohne Ärzte oder Hebammen geboren, hangen an der Mutterbrust (das jüngste ist 18 Tage alt) andere krabbeln auf einer Decke, während die Erwachsenen ein Lied über das Holz anstimmen. Auf dem Herd dampfen riesige Kochtöpfe voll mit Pasta und Kichererbsen. Im Regal stehen Bücher mit Titeln wie «Impfen – warum?» oder «Freundschaft mit der Erde». Auf dem Cheminéesims ein paar gerahmte Fotos, Krimskrams, eine Schneekugel. Einer der Männer scheint den Anschluss beim Singen verpasst zu haben und blättert in einem Automagazin mit den neusten Modellen.
Kurz bevor die Töpfe vom Herd geholt werden und die Singstunde zu Ende ist, vereinbart man einen neuen Termin für die nächste Probe. Denn sie üben für das «Fest der Sozialisierung», mit dem sie den Leuten aus der Region die eigene Lebenswelt vorstellen wollen. Lebenswelten, die sich je nach Dorf und Haus aus Hinduismus, Buddhismus, Maya-Kalender, Mond-Kalender der Biodynamiker und Rudolf-Steiner-Pädagogik neu zusammenmischt.
Eine junge Italienerin, die weder fotografiert noch beim Namen genannt werden möchte, erklärt ihre Philosophie: «Wir sind auf dem Weg zur Selbstversorgung, möchten mit der Umwelt in Symbiose leben.» Sie spricht engagiert, inbrünstig, doch ohne anzuklagen, zu missionieren oder zu verdammen. Drei Kinder, das älteste keine sechs Jahre alt, hat sie in der Abgeschiedenheit geboren. «Wir glauben, dass die Beziehung zur Natur in der Stadt verloren gegangen ist, weil die Strassen zugepflastert sind und die Leute vom Geld dominiert werden.» Deshalb wollen sie versuchen, möglichst ohne Geld auszukommen. Und weil sie gleich ahnt, was für eine Frage folgen wird, fährt sie fort: «Wir leben im Jahr 2007, auch wir brauchen Geld, um uns Dinge zu kaufen wie die Solarstrombirne, die Buntstifte für die Kinder, Kleider.» Dieses Minimum an Geld beschaffen sich die Elfen auf ganz unterschiedliche Weise: Als Ballonkünstler in den Städten, als Allrounder auf dem Bau, als Pizzabäcker an einem Musikfestival.
Doch nicht alle im Tal haben ihre Lebensweise reflektiert, sehen Widersprüche ein, stehen zu Inkonsequenzen. Ignazio etwa redet abschätzig über die Supermärkte, den Kapitalismus, während in seinem Eingang eine Gigapackung Bierdosen steht. Und die Handys, die einige Elfen bei sich haben, verschwinden schnell in den Hosentaschen, sobald sie ins Aufnahmefeld der Fotografin gelangen.
In Treppio, dem letzten «normal» besiedelten Dorf am Taleingang, hat man sich mit den Elfen arrangiert. Franco Maestrini, 71, wettert zwar, dass die Elfen das Tal einfach in Besitz genommen hätten und dass man halt nicht verstehe, wieso man ohne Dusche und Toilette in diesen Wäldern hausen könne. «Doch sie stören niemanden und so haben wir sie akzeptiert», sagt er. Auch Agnese Borri, 68, und Liliana Lorenzi, 68, Nachbarinnen, stören sich nicht an den Elfen. «Es hat noch nie auch nur eine Socke an der Wäscheleine gefehlt», sagt Agnese Borri. Und sicher ist auch der Gesprächsstoff willkommen, den die Elfen den letzten Einwohnern in Treppio liefern: «Weisst du noch, wie mal eine Mutter aus Genua mit der Polizei hier aufkreuzte und ihre Tochter aus dem Wald holen wollte?», fragt Liliana Lorenzi ihre Freundin. «Ja genau!», antwortet diese, «oder als einer sein Bein brach und acht Tage lang alleine in seiner Hütte lag, bis ihn jemand per Zufall fand.»
Die Gemeindepräsidentin Francesca Vogesi meint, auf die Elfen angesprochen, knapp: «Für mich sind alle Bürger gleich und alle müssen sich an die gleichen Gesetze halten.» Ob dies im Tal der Elfen immer der Fall ist, zum Beispiel bei Umbauten? Sie zieht die Schultern bis zu den Ohren, spreizt die Finger, schweigt.
Die letzten fünf Nonnen der Casa Mater Dei in Treppio sagen auch nur wenig zu den Elfen. Schwester Eutilia, seit 15 Jahren im Kloster, faltet die Hände und neigt den Kopf, wenn man sie darauf anspricht. Gewiss, es seien nette Menschen. «Aber irgendwie ist deren Leben doch nicht ganz normal», meint sie.
Das gemeinsame Essen bei Ignazio neigt sich dem Ende zu und die Leute kehren zurück in ihre Weiler, zurück auf die Felder. Sabina, 48, aus Zürich, wohnhaft in Aldaio, möchte den späten Nachmittag noch nutzen, um die Himbeeren zurückzuschneiden und Radieschen zu säen.
Sabina hat die Leute aus Aldaio vor 17 Jahren kennengelernt, wohnt aber erst seit zwei Jahren mit ihrem jüngsten Sohn im Tal. Zuvor hatte sie 25 Jahre in der Toscana am Meer und dann für zwei Jahre wieder in Zürich gelebt. «Doch das Tal hier war der einzige Ort, an den es mich wirklich hinzog», sagt sie, während sie mit der Rebschere die Himbeertriebe schneidet. Weil hier Werte gelebt würden, die ihr wichtig seien: Respekt gegenüber der Erde, Respekt vor den Mitmenschen.
Nicht weit von ihr knattert Romano mit einer Bodenfräse über die Wiese. Er hat sie erst vor ein paar Stunden ins Dorf gebracht. «Jetzt ist natürlich eine grosse Diskussion ausgebrochen, ob wir denn nun mit Maschinen anbauen wollen oder nicht», sagt Sabina, streicht sich eine Haarsträhne aus der Stirn und beobachtet Romano einen Moment lang. Das werde man jetzt ausdiskutieren müssen, wie auch die Spannungen, die beim Zusammenleben entstehen, in der gemeinsamen Runde besprochen werden. «Das Leben so nah beieinander kann manchmal so intensiv werden, dass ich einfach gehen will», sagt sie, «diese Unorganisiertheit bereitet mir immer wieder Mühe. Es braucht einen enormen Willen, die anderen immer wieder zu verstehen versuchen und Spannungen abzubauen.» Deshalb sind es Tausende, die im Laufe der Jahre ins Tal der Elfen gekommen sind und Tausende, die auch wieder gegangen sind.
Auf der anderen Talseite haben sich dieser Tage zwei weitere Schweizer niedergelassen. Sie kommen von der Strasse von Bern, haben mit ihren vier Hunden ein eingefallenes Steinhaus besetzt und träumen den Traum von der Selbstversorgung, vom Leben in Gemeinschaft und Harmonie.