Sie sind die berühmtesten Schatzgräber der Schweiz: Franz von Arx und Paul von Känel. Nach 14 Jahren Schwerarbeit im Urner Hochgebirge, nach endloser Schufterei im tiefen Stollen, haben die beiden aus dem Berg geholt,
wovon sie so lange träumten: den grössten Kristall der letzten 400 Jahre.
Ein Fund von unschätzbarem Wert. Doch so kostbar dieser Schatz auch sein mag, reich werden die beiden Männer damit nicht. SIE+ER zeigt, wie hart die Suche nach dem Rauchquarz wirklich war.
Text: Gabrielle Kleinert
Fotos: Robert Bösch
Ihre Hütte klebt mitten in der steilsten Felswand. Hoch über dem Göschener Tal, wenige Meter unter dem Gipfel des Planggenstocks, auf 2500 Meter über Meer. Die Sicht geht tief hinunter ins grüne Tal, über den Stausee, die Bergbeiz «Dammagletscher», hinüber auf den Gletscher selbst und den weissen Gipfel des Dammastocks. Vereinzelte Sonnenstrahlen dringen durch die Nebelfetzen über der hochalpinen Landschaft und schimmern auf dem Geröllfeld. Das Licht ist grell, irgendwo glitzert türkisblau ein kleiner Bergsee. Drei Stunden beschwerliches Bergsteigen geht es hinauf – über Steinplatten, Granitblöcke. In senkrechten Abgründen hilft nur noch das Seil.
Hier oben leben Paul von Känel, 58, aus Reichenbach BE, und Franz von Arx, 56, aus Gurtnellen UR. Seit 14 Jahren schon, vom Frühling bis in den Herbst, lassen die beiden Kristallsucher ihre Familien, die Frauen, die Kinder, ihr Daheim, zurück im Tal. Nur an wenigen Wochenenden steigen sie hinab, «damit sie uns nicht ganz vergessen.» Aber solange es die harte Witterung der Alpen irgendwie zulässt, solange sie im kargen Urner Hochgebirge überleben können, schlagen sie tiefe Höhlen in den Fels, stossen mächtige Granitblöcke weg, wühlen sich durch Schutt und Lehm, kämpfen Tag für Tag gegen Kälte, Regen, Nebel und Schnee. Sie leben an steilen Abgründen, fürchten den Steinschlag, suchen immer weiter nach der nächsten grossen Kluft, die mit glitzernden Kristallen gefüllt ist. Die Arbeitsbedingungen am Berg sind hart, manche Klüfte tragen keine Kristalle in sich, manche sind leer, manche geben ihre Kostbarkeiten nicht her und halten sie für ewig im Stein fest.
«Wenn wir im Herbst noch leben, haben wir Glück gehabt. Am Fels weiss man nie, was passieren kann», sagt von Arx.
Auf dem Felsvorsprung neben dem Hütteneingang stapeln sich Weinflaschen. Auf dem mit Quarzsplittern übersäten Boden liegen Bretter, eine knarrende Stiege führt in die Kammer hoch. Wände aus Holz und Styropor, der Raum drei mal drei Meter klein, beheizt durch nichts als eine Gas-Herdplatte. Durch die kleine Luke dringt ein bisschen Licht. «Es ist nicht so, dass wir keinen Besuch wollen», sagt von Arx, «aber zu fremden Leuten sagen wir immer ‹Nein›».
Er hat rote Backen und einen kurzgeschnittenen Bart, greift mit seinen groben Händen tief in den Rucksack und klaubt die Einkäufe vom letzten Wochenende heraus. Shampoo Prix Garantie. Zwiebeln. Zwei Kohlrabi. Bratfett. Teebeutel. Das Kochen teilen sich die beiden Freunde: Von Känel macht Frühstück, «Rösti, Speck, Brot, Kaffee», von Arx das Zmittag, «Felchenfilets sind ganz neu auf dem Menüplan, gell Päuli. Hast sie von deinem Fischer am Thunersee mitgebracht.» Auf dem Tisch stehen Gläser, von Arx dreht den Verschluss der einen Flasche auf und schenkt ein. «Schau Franz, ich hab einen neuen Tee gekauft, Chai.» «Aber jetzt gibts erst mal einen Cynar, Päuli. So wie immer.» Im Holzbalken über dem Herd stecken Küchenmesser, an Rostnägeln hängen Bratpfannen, unter der Dachschräge liegen zwei schmale Matratzen – die von Paul ist orange, die von Franz köngisblau, das ist die Abmachung. Die Hütte ist spärlich eingerichtet, die beiden Freunde haben nur das Nötigste auf den Berg getragen. Ein altes Radio steht auf dem Tisch. Kein Fernsehen, kein fliessend Wasser, das Klo befindet sich draussen hinter einem grossen Fels.
Dann gehts hinab, in die Kluft. Zum Kristall. «Komm, Päuli, wir gehen mal schauen», sagt von Arx, «ob er noch da ist.» Die beiden Männer ziehen tarngrüne Militärhosen über die Jeans, schlüpfen in ihre warmen Westen. Über eine steile Leiter gehts von der Hütte zehn Meter tief auf einen engen Felsvorsprung hinunter, zum Eingang der Kluft. «Nein, den Bergfrieden stören wir nicht», sagt von Känel, «wir befreien die Steine doch aus ihrem dunklen Gefängnis im Fels. Die wollen ans Licht!» Er setzt seine Wollmütze auf, sie ist mit Schaumstoff ausgestopft, «ich hab immer den Gring angeschlagen, das musste aufhören.» Er wirft den Warmluftofen an, Rauch färbt den Himmel schwarz, heisse Luft wärmt den eisigen Granitstollen.
Die beiden Kristallsucher haben sich 32 Meter tief in den Berg gegraben. Der Stollen ist an der engsten Stelle einen halben Meter hoch und einen Meter breit. «Wir haben wahrscheinlich gespürt, das da drin ein Haufen Kristall liegen könnte, oder, Franz?» «Ja Päuli, das kann man so sagen.» Von Arx schliesst das rostige Schloss der Eisenklappe am Eingang auf. Zum Vorschein kommt ein wenige Meter langes, eingleisiges Elektro-Zügli – der Wagen gerade mal gross genug für einen Mann. Die selbstgebaute Bahn zieht die Schatzsucher in den ersten grösseren Hohlraum der Kluft. Kein Tageslicht mehr. Tiefes Dunkel. Dicht über den Köpfen der Berg. Zwei schummrige Lampen beleuchten die Gruft. Stehen kann hier keiner. Die nächsten Meter gehts erst gebückt, dann kriechend weiter. Es ist eisig kalt. Der Fels drückt eng. «So etwas hab ich noch nie gesehen», sagt von Känel, zeigt auf das Stollenende, «und glaub mir, ich hab schon viel gesehen.» Dann endlich, in der hintersten Ecke, der Schatz. Eine komplett intakte Kristallgruppe aus reinem, hellem Rauchquarz. Grösser als der gut gefüllte Rucksack eines Bergsteigers. Schimmernde Gesteinsbrocken, zur abstrakten Formation zusammengewachsen. Die Oberfläche der Steine von der Natur fein geschliffen, aus dem Inneren schimmern «Engelchen» – einzelne, zersplitterte Kristallstücke, klar wie Eis.
Vor etwa 20 Millionen Jahren muss dieses Urgestein entstanden sein. Damals haben sich unvorstellbar mächtige Gesteinsmassen aufeinandergeschichtet, ineinandergeschoben, haben zwischen all den Platten, Blöcken und Abhängen Hohlräume gebildet. Darin trafen Mineralien und Monokieselsäure aufeinander. Die Säure erhitzte sich durch die Erdwärme und löste über Jahrtausende hinweg die Mineralsteine auf – als alles abkühlte, enstanden Kristalle. Dunkle Rauchquarze und helle Bergkristalle; beide gleich wertvoll, beide gleich schön. 300 Kilo wiegt der riesige Quarz, den die beiden Strahler gefunden haben. Sein Wert ist unschätzbar. Etwas Schöneres und Grösseres hat in den letzten hundert Jahren keiner aus dem Fels geholt.
Die beiden Männer liegen davor, bestaunen still ihre Kostbarkeit. Dann flüstern sie: «Schau mal, das Engelchen, eingesperrt für Millionen Jahre in der dunklen Grotte.» «Es dauert nicht mehr lang. Geduld, Geduld, Engelchen. Bald befreien wir dich ans Tageslicht.» «Die Berg-Gnomen haben es gut gemeint mit uns.» «Ein schöneres Geschenk hätte uns der Berg nicht machen können.»
Jahrzehntelang haben sie vom richtig grossen Schatz im Berg geträumt, daran geglaubt hat keiner von beiden. Dann, vor knapp einem Jahr, im Herbst 2005 – die Bäume färbten sich bereits gelb, der Winter kündigte sich mit ersten Schneeflocken an – beschlossen die beiden Schatzsucher, die damals 30 Meter lange Kluft zu verlassen und erst im nächsten Jahr, wenn der Sommer und die Wärme wieder da wären, an den Planggenstock zurückzukehren. «Hier ist nicht mehr viel zu holen», erzählt von Arx, «haben wir gedacht.» Aber am letzten Tag ihrer Schufterei stiessen sie doch noch auf einen neuen Hohlraum in der Kluft. Von Arx erzählt: «Ich spitzte am Quarzband mit dem Hammer und bemerkte die Höhle. Ich sagte zu Päuli: Juchze mal.» Von Känel unterbricht: «Franz findet, er könne selbst nicht juchzen.» «Aber gell, Päuli, ich habe gespürt, dass wir was Grosses gefunden haben, ich habs gespürt.» Also juchzte Paul, und dann lugten sie in das Loch. «Wenn nach 16 Millionen Jahren das erste Mal Licht auf Kristalle fällt, fangen sie an zu leben», sagt von Känel in seinem breitem Berner Oberländer Dialekt, «das isch besser aus Hochzyt.»
Wie von Arx und von Känel träumen 200 Hobbystrahler im Kanton Uri von einem solchen Schatz. «Strahler» heissen die Kristallsucher – nach dem Strahlen der reinen, hellen Steine. Das Urner Gebiet ist für seine Kristalle bekannt, hier gibt es viel hartes Granitgebirge mit vielen Quarzbändern, was die beste Voraussetzung für richtig grosse Funde ist. Aber der Berg hält seine Schätze gut versteckt. Ein Zelt, ein paar einfache Werkzeuge, ein bisschen Geografiekenntnisse, die Freude am Klettern, am Berg und am Suchen muss den Hobbystrahlern genügen. Mehr kann sich keiner leisten, zu mehr hat kaum einer Zeit noch Geduld. Nur wenige finden in ihrem Leben einen grossen Kristall; einige haben noch nie etwas Rechtes heimtragen dürfen. Von Arx und von Känel sind zwei von gerade mal fünf professionellen Kristallsuchern in der Schweiz. Sie können von ihren Funden leben. Im Winter und Frühling verkaufen sie die Steine in den eigenen Läden zu Hause in Gurtnellen und Reichenbach. Sie sind berühmt für ihre Schätze, aber reich ist trotzdem keiner von beiden.
Dicke Wolken stossen jetzt vom Tal den Berg hoch, es ist schon düster hier oben. Die Nacht kommt. «Jetzt erzähl du, Paul», sagt von Arx, rüstet in der warmen Hütte Kartoffeln für die Rösti. Es riecht nach Propan-Gas, heissem Bratfett, kalter Luft, nach Schnee. «Ja, was soll ich denn sagen? Vielleicht, dass wir beide in all den 14 Jahren vom grossen Krach verschont geblieben sind.» Er klaubt die Kartoffelhäute zusammen, stopft sie in ein leeres Tetrapack Orangensaft. Das ist der Kompost, den er jeden Morgen noch vor dem Frühstück an die Bergdohlen verfüttert. «Die plangen immer schon darauf», sagt er, «schlaue Vögel.» Von Känel ging früher schon täglich zu Berg, arbeitete als Bergführer; von Arx hatte als Bauführer mehr als fünfzig Arbeiter unter sich. Zum Kristallsuchen stiegen sie an den Wochenenden in die Felsen, allein, jeder für sich, in seine eigene Kluft. «Irgendwann begleitete der eine den anderen», erzählt von Känel, «so haben wir uns kennengelernt.» «Freundschaft auf den ersten Blick, so war das mit uns.» An jenem Tag vor 15 Jahren fanden die beiden Männer ihre ersten Kristalle, seither leben sie gemeinsam am Berg.
Dann, nach mehr als 18 Millionen Jahren, sieht der grösste Kristall der Schweiz endlich Tageslicht. Den ganzen Sommer haben die beiden Männer an seiner Bergung aus dem Fels gekrampft, Tag für Tag im tiefen Stollen. Der Helikopter hat ihn schliesslich vom Planggenstock ins Tal geflogen. Freunde und Strahlerkollegen sind gekommen, um zu gratulieren. «Heute ist ein grosser Tag, vielleicht der grösste überhaupt in unserem Leben», sagt von Känel. Dann umarmt er seinen Freund. Er hat Tränen in den Augen.
Später sitzen alle zusammen in der Beiz. Der Kristall liegt draussen auf dem offenen Autoanhänger. Wolldecken schützen ihn. Jetzt wird er vom Dreck der letzten Millionen Jahre frei gewaschen, dann wird ein Käufer gesucht. «Wir geben ihn nicht so einfach her», sagt von Arx, «wir suchen ihm irgendwo ein Plätzli, wo er es schön hat. Das ist uns wichtig. Und wo jeder ihn sehen kann, gell, Päuli.» Und dann?, will einer am Tisch wissen. «Dann bin ich am Sonntagabend wieder in der Hütte. Und warte auf Montag. Dann kommt der Franz hoch.»