Harte Fäuste, zarte Seele

Publiziert: 25.05.2006 um 14:16 Uhr
|
Aktualisiert: 06.09.2018 um 21:05 Uhr
Claudia Langenegger

Von seinen Managern wird der russische Schwergewichts-Weltmeister zum King Kong zwischen den Seilen stilisiert. Weil es gut ist für die Kasse. Doch ausserhalb der Arena ist der Riese ein scheues Sensibelchen. Ein Mann mit bescheidenen Träumen, der nur seine Ruhe will. Damit ist es nächsten Samstag vorbei. Dann muss er seinen Titel verteidigen. Ring frei für das Monster

Text: Claudia Langenegger
Fotos: Ludwig Rauch


Wie ein Koloss ragt er vor mir in die Höhe. Ein immenser Schädel thront über dem gigantischen Oberkörper und den endlos breiten Schultern. Die Stirn flieht flach nach hinten, darunter ragen die Augenbrauen wulstig weit nach vorne. Hoch und breit sind die Wangenknochen, flächig fleischig die Backen. Tief schneiden Falten neben dem Mund ins Gesicht. Flüchtig blickt er an mir herunter. Im grobschlächtigen Gesicht ein Mund mit vollen, sinnlichen Lippen. Seine Haut ist milchig weiss und zart. Es scheint, als käme Nikolai Valuev von einem anderen Stern.

Der Boxer aus St. Petersburg bindet sich die Bandagen um die dicken Finger und mächtigen Handgelenke. Sein Trainer Manuel Gabrelian schnürt ihm die roten Everlast-Boxhandschuhe zu und zieht sich dann die Handpolster über. Valuev bereitet sich im Sportzentrum Kienbaum bei Berlin auf seinen nächsten Kampf vor. Langsam und stetig bewegt er sich über die Tartanbahn vorwärts, schlägt dabei linke, rechte Geraden und Haken in die ledernen Pratzen des Trainers. Regelmässig. Unermüdlich. Er schnauft und schnaubt wie ein Pferd, tiefe Furchen durchziehen die Stirn. Im Nacken bilden sich Wülste, schwarze Rückenhaare lugen aus dem schweissnassen T-Shirt hervor. «Schön, gut, Prachtsjunge!», lobt ihn Gabrelian. Der Armenier mit Goldzahn und listigem Lächeln ist zwei Köpfe kleiner als sein Zögling.

Nikolai Valuev ist 2, 13 Meter gross, knapp 150 Kilogramm schwer und inzwischen Weltmeister im Schwergewicht. Letzten Dezember trat er gegen John Ruiz an. Der 25 Zentimeter kleinere WBA-Champion wagte sich gefährlich nahe an den Russen ran. Valuev bewegte sich schwerfällig und gebrauchte fast nur die Linke, um sich seinen Gegner vom Leib zu halten. Kein schöner Kampf, und doch holte sich Valuev den Siegergürtel. So wurde der Riese aus St. Petersburg der erste Schwergewichts-Champ aus Russland und das neue Paradepferd im deutschen Boxstall «Sauerland Events».

Unglaublich, seine Kampfbilanz: Er gewann sämtliche seiner 43 gewerteten Profikämpfe, drei Viertel seiner Gegner knockte er dabei ins Out. Allerdings: Er gewinnt oft einzig wegen seiner körperlichen Überlegenheit und nicht wegen seinen boxerischen Fähigkeiten. «Zeitlupenboxer», «Zirkusnummer» und «Neandertaler» spottet die Presse. Das Publikum liebt eben Boxer, die sich ihren Sieg hart erkämpfen müssen. Die sich furchtlos den Fäusten des Gegners ausliefern, Herz zeigen, sich dazu flink bewegen und mit eleganten Kombinationen entzücken.

Valuev ist also kein grosser Boxer. Nie wird er an die Legenden der Königsklasse Schwergewicht heranreichen. Er ist weder ein Strassenkämpfer wie Tyson, noch ein flinkes Grossmaul wie Ali und hat auch keine hammermässige Rechte wie einst «Rocky» Marciano. Doch Valuev fällt auf. Und er ist hartnäckig. Verbissen kämpft er tagtäglich mit seinen drei Zentnern Körpergewicht. Die spürt er bei den Laufeinheiten, leidet unter ihnen beim Seilspringen.

Schon als 12-Jähriger mass der Russe 1,96 Meter, sein Körper war ungelenk und schwerfällig. Die älteren Schüler hänselten ihn deswegen. «Ich war zwar gross, aber nicht stark. Ich wollte stark werden. Deshalb fing ich mit Leichtathletik an», sagt er, «das hat mich selbstbewusst gemacht.» In der Sportschule sah er die agilen, eleganten Körper der Athleten, träumte davon, Weltmeister im Diskuswerfen zu werden. Vergeblich. Später versuchte er es mit Basketball. Auch daraus wurde nichts, denn Valuev ist ein Einzelkämpfer.

Mit 19 begann dann die Blitzkarriere als Boxer, schon sechs Monate nach dem ersten Training stand er als Profi im Ring. Er kämpfte in Australien, Japan, Europa und Amerika. Angepriesen als «The Beast from the East» – die Bestie aus dem Osten – war der Hüne aus St. Petersburg stets die grosse Attraktion. Doch mit dem Boxen haperte es. «Bei meinem ersten Kampf brachte ich nicht mal eine halbwegs anständige linke Gerade zustande», erinnert er sich. Seine Sätze sind knapp, seine Stimme tief und mächtig. Er nimmt einen Schluck aus seiner Wasserflasche, lockert die Schultern, schlägt eine Salve Gerader und Haken in die Luft, und lässt dann einen Tennisball vom Boden abspringen. Der gelbe Ball scheint in seinen Pranken zu verschwinden.

Am 3. Juni steht in Hannover (D) sein erster Verteidigungskampf als Weltmeister an. Dort wird er gegen Owen Beck in den Ring steigen. Sein Gegner ist Jamaikaner, fünfundzwanzig Zentimeter kleiner und im internationalen Boxbetrieb keine wirklich bedeutende Nummer. Für Valuev gibt es nur eins: den Sieg.

«Galina liebt grosse Autos, grosse Männer und grosse Häuser», sagt er und lächelt. Es ist das Lachen eines sorglosen Jungen. Galina ist seine Ehefrau. Es stört sie nicht, dass ihr Mann fast hundert Kilogramm schwerer und einen halben Meter grösser ist als sie. Nikolai Valuev wischt sich mit dem Frottiertuch den Schweiss von der Stirn, löst die Bandagen und versorgt sie in seiner Aldi-Tüte. Das Training ist zu Ende, er zieht ein frisches T-Shirt an. Freund Dimitri, Sportreporter und Übersetzer, ist aufgetaucht. Auf dem Weg zur Kantine stellt sich Valuev vor einer Baumgruppe in Pose. Dimitri zückt die Digitalkamera. Es ist eines der vielen Fotos für Grisan Grigorie, den vierjährigen Sohn des Boxers.

Auch den Jagdausflug vom letzten Januar in die Wälder Brandenburgs hat Valuev für seine Freunde in St. Petersburg aufgezeichnet. Hier hat der begeisterte Jäger seinen ersten Hirsch erlegt. Valuev liebt es, draussen in der Natur zu sein, den Tieren nahe. Ihn reizt das Gefühl von Gefahr. In den Wäldern Russlands blickte er, so sagt man, einmal einem Wolf direkt in die Augen. Der Wolf drehte ab und verschwand zwischen den Bäumen.

Jetzt sitzt der Russe am Tisch in der Kantine des Sportzentrums. Der Stuhl scheint unter ihm zu einem Kinderstuhl zu schrumpfen. Draussen im Grünen hat er noch entspannt Lieder gesungen, jetzt rutscht er ungeduldig auf dem Stuhl herum und versteht plötzlich kein einziges Wort Deutsch. Hat er tatsächlich letzten Winter auf der Jagd in Russlan einen Wildschweinkeiler mit blossen Händen erlegt? Der Boxer verdreht seine Augen, seufzt laut und guckt etwas entnervt zur Decke. Seine Arme hat er vor der Brust verschränkt. Dimitri erklärt: «Es war bloss ein kleines Wildschwein, zwei Hunde hatten sich festgebissen.»

Furchtlos und ehrgeizig, so sind die Boxer aus dem Osten. Ihnen gehört die Zukunft. Der gnadenlose Drill der sozialistischen Sportschulen hat sie zäh und unschlagbar gemacht. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie die Königsklasse des Boxens vollständig dominieren. In drei der vier bedeutenden Box-Weltverbänden ist dies schon der Fall: Im April besiegte der Ukrainer Vladimir Klitschko den IBF-Champ Chris Byrd (USA) und der Weissrusse Serguei Lyakhovich den WBO-Weltmeister Lamon Brewster (USA). Einzig der Schwergewichtsgürtel der WBC befindet sich noch in den Händen der Amerikaner.

Der Markt der Zukunft liegt im Osten. Das hat auch der legendäre amerikanische Promoter Don King begriffen. Unvergessen, wie er nach Valuevs Sieg im Ring stand, mit einem deutschen und einem russischen Fähnchen winkte, radebrechend «Ich liebe Deutschland» sagte und dabei selig lächelte. Dies, obwohl sein Schützling John Ruiz gerade den Weltmeistertitel verloren hatte. Don King ist schliesslich ein cleverer Geschäftsmann. Er hat sich deshalb die Anteile an den nächsten vier Kämpfen Valuevs bereits gesichert. Danach will er ihn nach Las Vegas bringen. Der Russen-Riese lässt sich in Amerika gut verkaufen.

«Die Jungs aus dem Osten boxen nicht, weil ihnen der Sport besonders gut gefällt, sondern weil Boxen für sie den gesellschaftlichen Aufstieg bedeutet», erklärt Heiko Mallwitz. Er ist Pressesprecher von Sauerland Events. Und fügt an: «Der Weltmeistertitel ist für Valuev das Ticket zur deutschen High Society.» Bloss interessiert das Valuev nicht. So fragte er an seiner ersten «A-Promi-Party» in Köln nach einer knappen Stunde: «Was machen wir hier eigentlich?» – «Wir sind hier, that’s it. Du bist nun ein gern gesehener Mann», antwortete ihm Mallwitz darauf. «Wie lange müssen wir noch bleiben?» fragte der Boxer und blickte dabei auf seine Uhr. Mallwitz: «Mindestens eine Stunde.» Genau nach einer Stunde war Valuev weg.

Als Champion vervielfachte sich sein Einkommen. Aber er kaufte sich damit weder eine goldene Rolex, noch einen Ferrari oder Porsche. Er lässt höchstens Galina mit seiner Kreditkarte neue Kleider kaufen und ist froh, dass er sich jetzt die Spezialanfertigungen seiner eigenen Kleider und Schuhe problemlos leisten kann. Viel lieber investiert er Geld in sein Projekt, ein Sportzentrum für Jugendliche in St. Petersburg. Den Platz, an dem es gebaut werden soll, hat er schon gefunden. Er träumt davon, mit ihnen zu trainieren.

Valuev spielt das gnadenlose Spiel ums grosse Geld auf seine Weise mit. Der Glamour der Boxwelt weht sanft an ihm vorbei. Seinen Kampfnamen «Der sanfte Riese» mag er nicht. «Ich heisse Nikolai. Warum kann man mir nicht einfach ‹Nikolai› sagen?»

Bevor wir uns verabschieden, sage ich ihm, dass auch ich boxe. Da schaut er nachdenklich auf mich herunter, fragt mich mit seinem tiefen Bass auf Deutsch: «Warum?»

Fehler gefunden? Jetzt melden