Nur noch knapp sechs von zehn jungen Schweizern leisten Dienst, Tendenz sinkend. Doch zuhinterst in einem Tessiner Tal trainiert eine hochmotivierte Truppe den Kampf im Feindesland. Was bewegt Lehrabgänger und Maturanden dazu, sich freiwillig 25 Wochen Stress und Strapazen anzutun?
Von Christian Dorer (Text)
und Thomas Buchwalder (Fotos)
Semper fidelis – immer treu
Leitspruch auf der Grenadier-Fahne
neben dem Kaserneneingang
«Guten Morgen! Bonjour! Buon giorno!», hallt es erst aus 150 Kehlen und dann als Echo von den Bergen. Isone TI liegt in einem Tal-Kessel. Montag, 7 Uhr, Morgenappell. Das Programm zum Start in die 20. RS-Woche: Zehn-Kilometer-Eilmarsch auf den Monte Tiglio in Kampfstiefeln und Tarnanzug, mit dabei die komplette Ausrüstung: Sturmgewehr, Splitterschutzweste, Regen- und Kälteschutz, Ersatzwäsche, Gamelle, und und und – an die 30 Kilo.
In jeder anderen Rekrutenschule würde jetzt gemurrt: Schikane! Die spinnen! Warum der ganze Plunder! Die einen würden spazieren statt rennen, die anderen schlappmachen. Nicht in Isone: Hier verlangt der Grenadier-Stolz, dass jeder alles gibt. Dass die zehn Schnellsten Freitagabend statt Samstagmorgen entlassen werden, gibt der Truppe einen zusätzlichen Kick. Wer die Rekruten dann keuchen und dampfen sieht, versteht, warum die Küche drei bis vier Mal mehr kocht, als nach Rezept für eine normale RS vorgesehen. Und warum jeder Soldat hier täglich sechs bis acht Liter Flüssigkeit braucht.
Es war General Henri Guisan, der die Grenadier-Truppen 1943 gründete. Während des Zweiten Weltkrieges erkannte er das Bedürfnis nach einer «Nahkampf- und Schocktruppe», wie es damals hiess. Auch heute noch bilden die Grenadiere die Elitetruppe der Armee. Ihre Aufgabe: offensive Aktionen im Feindesland. Die Befehlslinie verläuft direkt vom Bundesrat über den Armeechef zu den Grenadierformationen. Der höchste Grenadier der Armee, Oberst im Generalstab Marc-Antoine Tschudi, 55, charakterisiert seine Leute so: «Sie sind stolz, Grenadiere zu sein. Sie haben den Willen, Leistung zu bringen. Sie sind bereit, über sich hinauszuwachsen und dafür auf dem Zahnfleisch zu gehen.» Semper fidelis.
Montagabend, Ausgang bis 23.15 Uhr – der einzige in dieser Woche. Vor dem Appell kontrolliert der Feldweibel, ob die Schuhe glänzen, die Krawatten auf Gurtlänge gebunden, die Socken schwarz, die Hemdenkragen sauber, die Hosenknöpfe geschlossen sind. 150 Rekruten stehen in Reih und Glied neben ihren Betten in den 25er-Schlägen, mucksmäuschenstill, in Ruhnstellung. Oft dauert das Prozedere gut und gern eine Stunde; diesmal ist der Feldweibel auf Anhieb zufrieden.
Wenn die Burschen endlich geputzt und gestriegelt in der Pizzeria «degli Amici» mit einem Humpen Bier anstossen, sehen sie nicht aus, als hätten sie gerade noch Häuser in die Luft gejagt. Tom Cruises und Arnold Schwarzeneggers sucht man hier vergebens. Da sitzt zum Beispiel Andreas Läderach, 20-jährig, Landwirt aus Signau BE, ein zierlicher Bursche mit Flaum am Kinn, blondem Kurzhaarschnitt und tiefblauen Augen. Er sagt: «Wir sind keine Rambotruppe. Wir brauchen unseren Kopf. Und zwar nicht, um damit durch die Wand zu rennen.» Er ist Grenadier geworden, weil er was erleben wollte. Und weil sein bester Freund auch Grenadier wurde. Dass sie für den Krieg ausgebildet werden, und dass den Ernstfall viele von ihnen nicht überleben würden – das sind keine Gedanken, denen Läderach und seine Freunde nachhängen. Marco Hadorn, 19, Gymnasiast aus Uetendorf BE: «Ich sagte mir, wenn schon Armee, dann richtig. Ich will fit bleiben und was erleben.»
Gruppenchef Kilian Thomann, 21, UBS-Banker aus Bern, hat sogar ein Bäuchlein. Doch er ist zäh und wusste bei der Aushebung, was er wollte: «Ich habe viel vom Mythos Grenadier gehört. Für mich war klar: Da will ich hin, mit den Leuten hier bin ich auf gleicher Wellenlänge. Ich war nie der Schnellste. Doch ob man durchhält, entscheidet sich im Kopf.» Gemeinsame Erlebnisse schweissen zusammen. «Ich habe hier Freunde fürs Leben gefunden», sagt er.
Ein Drittel der Rekruten hält nicht durch. Niemand wird daran gehindert, Füsilier statt Grenadier zu werden. Gezielt wird ausgesiebt, wer physisch und psychisch zu wenig robust ist: Zu Beginn der RS herrscht von 05.45 bis 23 Uhr Dauerstress, selbst beim Essen, dazu Nachtübungen, und wenn einer den kleinsten Fehler begeht, dann pumpt die ganze Gruppe Liegestützen, 20, 30, 50, auch mal 80. Am Stück, versteht sich.
Fast alle Grenadiere tragen Millimeterschnitt. Fotografiert man sie vor der Schweizerfahne im Massenschlag, dann sieht das aus wie am Nationalfeiertag auf dem Rütli. Im August musste Schulkommandant Zeno Odermatt, 41, zwei Unteroffiziere und zwei Rekruten entlassen, weil sie sich Hitlerschnäuze angeklebt und den Hitlergruss gemacht hatten – vor Kollegen, die den Vorfall meldeten. «Einzelfälle», sagt Odermatt, und meint bestimmt: «Wer rechtsextrem oder rassistisch ist, hat bei uns nichts zu suchen.» Rekrut Läderach sagt: «Klar sind wir hier ein Mix aus der ganzen Gesellschaft. Ich habe aber noch nie festgestellt, dass einer rechtsextrem wäre.» Und wie zum Beweis zücken er und seine Kameraden Identitätskarte oder Lehrlingsausweis. Die zeigen: Im Zivilen trägt keiner Millimeterschnitt. Aber im Militär: Semper fidelis.
Isone, das Réduit. Den Weg ins Dorf hinauf weist eine unauffällige Tafel, kurz nach dem Monte Ceneri, zwischen Bellinzona und Lugano. Zehn Kilometer schlängelt sich die Strasse talaufwärts – viel zu breit für ein 400-Seelen-Dorf. Isone verdankt fast alles der Armee: seine Luxusstrasse, die vier Dorfbeizen, den Trainingsplatz für den Fussballclub, die Arbeitsplätze auf dem Waffenplatz. 98,5 Prozent der Einwohner haben die Armeeabschaffungsinitiative abgelehnt.
Ein grosses Fahrverbotsschild am Ende des Dorfs markiert das Ende der zivilen Welt: Kein Zutritt – Militärgebiet. 21 Quadratkilometer Bergwelt. Das einzige flache Stück ist der Fussballplatz. Sonst gehts nur steil rauf oder steil runter. Im Sommer schauen praktisch täglich Ex-Grenadiere, die im Tessin ihre Ferien verbringen, in Isone vorbei. Sie besuchen dann die Kaserne und die Grenadierkapelle, wo, so will es die Tradition, der Helm desjenigen Grenadiers aufgebahrt wird, der als Letzter im Dienst umgekommen ist – im Augenblick ist es ein Oberleutnant, getötet bei einem Schiessunfall am 3. Januar 2005.
Am Dienstag steht die Schweizer Armee im Aktivdienst. Die Verteidigungslinie verläuft vom Tessin ins Wallis. Der Gegner hat bereits das Dorf «Campedello» eingenommen und dort eine Hightech-Übermittlungsanlage installiert. Auftrag an Wachtmeister Thomann und seine acht Rekruten: Ziel vernichten!
Die Grenadiere bemalen sich gegenseitig das Gesicht mit grün-braun-schwarzer Tarnfarbe («am Anfang hat das noch Spass gemacht»). Jeder fasst fünf Magazine mit Sturmgewehr-Patronen und zwei Handgranaten, dazu Irritationskörper zur Verwirrung des Gegners, Sprengstoff-Ladungen, Zange, Hammer und Mehrzweckgewehr. So kriegt man jede Tür auf.
Allein das Anschleichen an den Dorfrand dauert drei Stunden. Dann gibts Action: Stacheldraht sprengen, Türe aufbrechen, Handgranaten in den Keller werfen, Räume erobern, Befehle schreien. Unablässig peitschen Schüsse über die Köpfe hinweg: von einer anderen Gruppe, die Deckung gibt. Dann Sprung aus dem Fenster, Spurt zum nächsten Haus, dasselbe noch einmal. Eine Viertelstunde und Dutzende Magazine später die finale Explosion: Die Übermittlungsanlage des Feindes fliegt dank 1,2 Kilo Sprengstoff in die Luft.
«Ihr müsst unauffälliger infiltrieren und die Köpfe tiefer halten. Sonst seid ihr alle tot. Das nächste mal besser!», kritisiert Oberstleutnant Andrea Dotti, 40. Später sagt er: «Ich bin immer knallhart mit den Leuten. Man muss ihnen hier etwas bieten – sie sind jung und mögen das.»
Die Armee steht nicht im Aktivdienst, und Campedello ist bloss das Übungsdorf der Grenadiere. Der Rest hingegen ist echt: die Schüsse, der Sprengstoff, die Handgranaten. Jeder muss sich auf jeden hundertprozentig verlassen. Fehler sind tödlich.
Deshalb gibt es in diesem Punkt kein Pardon. Einem Rekruten ging in der vorangehenden Woche ein Schuss ab, als er aus dem «Duro», dem Mannschaftstransporter, sprang – er hatte nicht kontrolliert, ob seine Waffe gesichert war. Zum Glück wurde niemand getroffen. Der Rekrut sitzt nun für 48 Stunden in einer der Arrestzellen des Waffenplatzes – 1,8 mal 3,8 Meter gross. In dämmrigem Tageslicht darf er jetzt die Bibel und das Dienstreglement studieren. Weil er sich schämt, will er nicht, dass sein Name in der Zeitung steht. Er sagt: «Die Strafe ist angemessen. Hier habe ich nun Zeit, über meinen Fehler nachzudenken.» Semper fidelis.
Die Kompanie übernachtet bis Ende Woche in einem Biwak nahe Bellinzona. Von dort starten die Rekruten immer wieder zu einem neuen Angriff – auch bei Nacht, mit 4000 Franken teuren Nachtsichtgeräten, die sich jeder vor die Augen schnallt. Der Aufbau des Zeltdorfes will nicht auf Anhieb gelingen: Zwar sind die Zelte zentimetergenau ausgerichtet, doch dafür stehen einige just auf einem Buckel oder in einem Graben. Schulkommandant Odermatt siehts und greift ein. «Wir müssen bei der Ausbildung bei null anfangen», sagt er. «Heutzutage haben 90 Prozent der Rekruten vor der RS noch nie in einem Zelt übernachtet.»
Odermatt führt die Grenadier-RS seit zwei Jahren. Seine Arbeitswochen zählen nie unter 60 Stunden. Zusätzlich zur normalen Arbeit kommt die Visitenkartenfunktion von Isone: Mal kommt der Armeechef mit ausländischen Generälen vorbei, mal der Bundesrat, mal ein Verteidigungsattaché. Colin Powell war auch schon hier, ebenso der US-Kommandeur in Vietnam, General W. C. Westmoreland. Alle staunen, zu was eine Milizarmee fähig ist. Dennoch musste Odermatt in den vergangenen Jahren einiges vom «Mythos Grenadier» zerstören. Die Zeiten sind vorbei, als in Isone andere Regeln galten, als es die legendären Grenadier-Taufen gab, bei denen die Berufsmilitärs jeweils wegschauten: In inoffiziellen Nachtübungen jagten die Leutnants ihre Leute den Berg hinauf. Die Rekruten mussten in der Schutzmaske einen Unimog raufstossen, mussten Hochprozentiges saufen und Tabak schnupfen, was das Zeug hält. «Es ist ausgeartet», sagt Odermatt. Und so gibt es heutzutage eine offizielle, 15-stündige Übung mit Marsch, Waten und Rudern.
Am Freitag, nach vier Tagen und drei Nächten im Freien, kehren die Grenadiere in die Kaserne zurück. Die zehn Schnellsten vom Eilmarsch dürfen schon heute abtreten. Bis auf einen: Die Kontrolle seines Gepäcks ergab, dass er den Kompass vergessen hatte; er ärgert sich nicht über seine Vorgesetzten, sondern über sich selbst.
Die Rekruten checken SMS, duschen, spülen Schichten von Schweiss und Tarnfarbe ab, öffnen Fresspäckli von Mutter oder Freundin. Ja, die Liebe muss hintenanstehen während der 25 Wochen. Auch Rekrut Läderach hat eine Freundin. Bestimmt sagt er: «Wenn die Beziehung die RS nicht übersteht, dann ist sie nichts wert.»
Semper fidelis – immer treu