Ein Jahr nach dem Amoklauf in Menznau (LU)
«Wir suchen immer noch nach Antworten»

Ein Jahr ist seit dem Amoklauf in der Kronospan-Kantine in Menznau LU vergangen. Dennoch sind viele Fragen offen.
Publiziert: 27.02.2014 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 07.10.2018 um 09:59 Uhr
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Beat Studer (59) gedenkt seinem Sohn, Kranzschwinger Benno Studer (†26). Er hat bis zu seinem Tod zu Hause, in Schüpfheim LU gewohnt.
Foto: Toini Lindroos
Von Lea Gnos

6122 Menznau LU: Hügel, Schafe und die zwei Filteranlagen der Holzverarbeitungsfirma Kronospan. Sie ragen kilometerweit sichtbar in den Himmel wie abgestürzte Raumschiffraketen – und sie dampfen Tag und Nacht. Vor einem Jahr, als es passierte, ruhten sie mehrere Tage.

Die Dörfler grüssen sich beim Posten. Man ist per Du: «Sali zäme.» Das Leben geht weiter. Und doch: Dazwischen sind sie, die Momente, in denen nichts mehr ist wie zuvor. «Als ich gestern die Fensterläden öffnete», sagt eine Frau, «sah ich die Mädchen von Christine ans Grab der Mutter gehen. Es gab mir einen Stich ins Herz. Sie tun mir so leid.» Die Töchter (10 und 13) von Christine N. († 43) seien schon immer schüchtern und still gewesen. «Wie sie das wohl verarbeiten, dass ihr Mami im Kugelhagel getötet wurde? Man weiss es nicht», sagt die Frau.

Ein paar Kilometer weiter, in Schüpfheim LU, sitzt Beat Studer (59) in der Stube. Sein Sohn Benno († 26), ein Kranzschwinger, starb ebenfalls beim Amoklauf. «Es ist der erste Gedanke am Morgen und der letzte, wenn ich ins Bett gehe», sagt er. Vor sechs Jahren zog die Familie ins ehemalige Schulhaus am Oberberg. Benno hatte noch zu Hause gelebt und als gelernter Schreiner alle 56 Holzfenster und die Treppe im Haus selber gebaut. Der Schwingkeller ist voll mit Kränzen und Preisen des Spitzensportlers. Vater und Mutter gehen mit der Tat unterschiedlich um. «Meine Frau ging an den Tatort», sagt Beat Studer. «Ich konnte das nicht. Wenn ich an der Kronospan vorbeifahre, habe ich immer ein komisches Gefühl.»

Beno hatte erst ein halbes Jahr in der Firma gearbeitet. Er liess sich als Technischer Kaufmann weiterbilden. Der Vater ist Schlosser, er trägt noch seine Arbeitsschuhe, als er eine Kerze entzündet: «Wir suchen noch immer nach Antworten, doch es bringt nichts.» Dann erzählt er: «Benno hatte an jenem Tag eine Sitzung. Die wurde aber unterbrochen, weil jemand wegmusste. Also holte er sich etwas zum Znüni. In diesem Moment ist es passiert.»

Benno war der Erste, der tödlich getroffen wurde. Von hinten. Ein Genickschuss. Im August wollte er am Eidgenössischen in Burgdorf einen weiteren Kranz holen. Der Vater, einst selber Schwinger, mag seither nicht mehr an Schwingfeste gehen: «Ich habe fürs Brünigschwinget eine Karte bekommen. Als ich dort war, fühlte ich mich aber nicht wohl. Jedes Mal, wenn sie die Gänge aus­riefen, dachte ich: Da wäre jetzt Benno sicher auch vorne mit dabei. Es war sein Lieblingsschwingfest.»

Als Beat Studer an jenem 27. Februar von der Arbeit heimkommt, erwarten ihn die Polizei und ein Arzt. «Sie sagten mir, was passiert ist. Meine Frau war gerade in der Reha.» An Ostern wird Bennos Grabstein fertig. Der Vater: «Es wird etwas ganz Spezielles. Benno trug beim Schwingen ja immer rote Hosenträger. Das wird man sehen.»

Die Kantine der Kronospan wurde eine Woche nach der Bluttat abgerissen. Jetzt steht dort ein Provisorium in kräftigen Farben. Jeder der 430 Mit­arbeiter weiss noch genau, wo er letztes Jahr am 27. Februar war. Urban Braun (37), Leiter Verkauf und Marketing: «Ich legte ge­rade den Telefonhörer auf, da rief eine Mitarbeiterin, in der Kan­tine werde geschossen.» Er kann es zunächst gar nicht glauben. Dann sieht er, wie Mitarbeiter in Panik aus dem Fenster springen.

Jürg Meier (45), kaufmännischer Direktor: «Ich war in den Ferien auf Gran Canaria und  flog am gleichen Tag zurück. Es dauerte neun Stunden, bis ich in der Firma war. Die Leere, die ich dabei empfand, kann man gar nicht beschreiben.»

Er habe möglichst schnell in die Normalität zurückgewollt, sagt ein Arbeiter, der von einer Kugel am Kopf gestreift wurde. Er ist auch wieder in einem der vielen Vereine der Region aktiv. «Ich ging gleich wieder arbeiten, als es mir besser ging. Zu kündigen, wäre mir nicht in den Sinn gekommen.»

Das lag sicher auch daran, wie man bei der Kronospan mit dem Amoklauf umging. «Wir haben versucht, niemanden zu vergessen und allen Mitarbeitern ein Gefühl von Sicherheit zurückzugeben», sagt Jürg Meier, Mitglied der Geschäftsleitung. «So liessen wir zum Beispiel nachts das Licht brennen.» Es gab aber auch jene Fälle, in denen sich die Angst auf die Familien übertrug. Auf Ehe­frauen, die sich plötzlich fürchteten, wenn der Mann zur Arbeit ging. Meier spricht vom «27.» oder vom «Ereignis», wenn von der Wahnsinnstat die Rede ist. Oberhalb des Geländes hat die Firma ein Mahnmal errichtet. Und heute findet ein Gedenkgottesdienst für Mitarbeiter und An­gehörige statt.

Das Haus des Täters in Wil­lisau LU steht heute leer. Einige Sachen der Familie standen eines Tages auf der Strasse – zum Mitnehmen.

Gemeindepräsident Adrian Duss (57) sagt, seit dem Ereignis sei man im Dorf enger zusammengerückt: «Es ist schwierig zu beschreiben, aber man begegnet sich vielleicht etwas aufmerk­samer, man kommt eher ins Gespräch. Doch der Alltag hat uns alle schnell ein­geholt.»

Beat Studer bleiben nur Er­innerungen, Videos von den Schwingfesten und Trophäen. Immerhin wagt er einen scheuen Blick in die Zukunft: «Vielleicht tritt ja Robin, mein dreijähriger Enkel, einmal in Bennos Fussstapfen. Benno war sein Götti.»

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