Auf einen Blick
Nathalie Wappler (56) und Susanne Wille (50) haben eines gemeinsam: Beide haben die SRF-Kulturabteilung geleitet – Wappler bis 2016, bevor sie Karriere in Deutschland machte und 2019 SRF-Chefin wurde. «10 vor 10»-Moderatorin Susanne Wille stand von 2020 bis kürzlich an der Spitze von SRF Kultur; seit November ist sie SRG-Generaldirektorin. Doch wer gedacht hatte, dass mit den Karrieren der beiden Frauen Ruhe in den Kulturbereich einkehrt, lag falsch.
Brandbrief der Belegschaft
Blick liegt ein Brandbrief der Belegschaft vor, unterschrieben von 51 SRF-Journalistinnen und Journalisten – adressiert an: «Liebe Nathalie». Nicht nur ältere Semester haben ihn unterschrieben, sondern auch SRF-Mitarbeitende, die erst in den letzten Jahren dazukamen. Der Inhalt wird in diversen Punkten von SRF bestritten, doch zeugt er von der schlechten Stimmung im Haus. So heisst es wörtlich: «Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit einem Angebotsverantwortlichen, der kein Interesse an Audio hat und in Sitzungen abfällige Kommentare über SRF 2 Kultur macht – im Sinne von: die paar alten Klassikhörer – ist nicht mehr möglich.» Die Mitarbeitenden fordern eine Mediation.
Ein weiterer Vorwurf: «Wer nur auf Reichweite und Klicks schielt, wird einen populistischen Kulturbegriff vertreten, Kulturinteressierte verärgern und den Auftrag der Fokussierung verfehlen.» An anderer Stelle steht über die Traditionssendung «Kontext»: «Der Kontext-Podcast wurde bereits vor anderthalb Jahren abgeschrieben. Das Personal liess man jedoch weitermachen und ins Messer laufen.» Statt transparenter Kommunikation gebe es eine «Diffusion von Verantwortung». SRF widerspricht diesen Vorwürfen auf Anfrage.
Reformprojekt floppte
Für Wappler und Wille ist dies ein Déjà-vu. 2020 wurden insbesondere aus dem Literatur- und Religionsbereich Kritik laut, als im Zuge von Sparmassnahmen die legendäre Sendung «52 beste Bücher» gestrichen wurde. Wappler und Wille setzten stattdessen auf den Podcast «Zwei mit Buch», der intern als Flop gilt. Zahlen will SRF dazu nicht kommunizieren.
2020 redete Starautor Lukas Bärfuss (52) auf einem Podium in der Zürcher Paulus-Akademie Susanne Wille ins Gewissen: Er warnte vor einer «Entsolidarisierung» des SRF-Stammpublikums. Er selbst greife immer mehr auf internationale Formate zurück, weil ihn die SRF-Qualität nicht mehr überzeuge. Er forderte Wille dazu auf, rote Linien zu markieren: «Man kann nicht ewig kürzen. Irgendwann gibt es eine Untergrenze, unter die man nicht mehr gehen kann.» Vier Jahre später steht SRF an einem ähnlichen Punkt.
Das Streichkonzert heisst «Angebotsfokussierung»
Recherchen von Blick zeigen: SRF Kultur hat bereits Sendungen eingestellt oder plant, diese einzustellen. Das Filmmagazin «Kino im Kopf» wurde kürzlich stillschweigend gekippt, die Sendungen «Kontext», «Künste im Gespräch» und «Kulturtalk» sollen eingestellt werden, stattdessen soll es eine Talkschiene geben. Die Sendungen «Musikmagazin» sowie «Jazz und World aktuell» werden zusammengelegt, ebenso «Sternstunde Religion» mit der «Sternstunde Philosophie». In der Leutschenbach-Welt heisst das nicht Streichkonzert, sondern «Angebotsfokussierung».
Im Klartext bedeutet das: weniger Klassik und mehr Taylor Swift; statt Kritiken mehr Service. Die Befürchtung der Radio-Belegschaft: Wenn am Ende das Fernsehen gewinnt, verliert die Kulturberichterstattung an Substanz. «Mit einer schnell gestrickten Talksendung können wir uns in der Medienlandschaft nicht profilieren. Jede Zeitung und jede grössere Institution hat mittlerweile einen Gesprächs-Podcast», beklagt die Belegschaft in ihrem Brief.
«Service public ohne public ist keine Option»
SRF betont gegenüber Blick: «SRF nimmt den in der Konzession verankerten Kulturauftrag ernst. Dazu gehört: Kulturangebote richten sich häufig nicht an die grosse Masse. Allerdings wollen und müssen wir diese avisierte Zielgruppe auch wirklich erreichen. Service public ohne public ist keine Option, das sind wir den Gebührenzahlenden schuldig.» Kulturangebote sollten für ein breiteres, kulturaffines Publikum zugänglicher werden. «So soll auch Hochkultur verständlich aufbereitet sein. Punktuell haben ausserdem auch Helene Fischer oder Taylor Swift als popkulturelle Phänomene Platz. Kultur ist nicht ausschliesslich Hochkultur.»
Doch wenn der Bereich Kultur nicht geschwächt werden soll – warum ist dann Susanne Willes Nachfolge nicht geklärt? SRF teilt mit: «Die Kultur wird auch in Zukunft in der Geschäftsleitung vertreten sein – einfach die genaue Form ist noch offen, so wie auch die künftige Gesamtorganisation von SRF neu definiert wird.»
Kulturbegriff der SVP
Klarer fällt die Antwort auf einen brisanten Vorgang aus: SRF stoppte dem Vernehmen nach einen Radio-Beitrag über den Kulturbegriff der SVP – weil medienpolitisch zu heikel. SRF teilt mit: «Geplant war eine Sendung über Kulturpolitik von links- und rechtspopulistischen Parteien. Der Beitrag wurde von den Verantwortlichen gestoppt, weil er ihrer Ansicht nach nicht ausgeglichen war und damit nicht den publizistischen Leitlinien von SRF entsprach.»
Mittlerweile steht auch fest, dass es keine Mediation geben wird: «Die Abteilungsleitung hat sich in zwei Terminen ausgiebig mit den Teams zu den Vorwürfen ausgetauscht und nochmals die Hintergründe für die Entscheide aufgezeigt. Damit ist die Angelegenheit erledigt.»
«Andere Sender in Europa sind viel aktiver»
Ob SRF selbst daran glaubt, ist fraglich. SP-Nationalrätin Estelle Revaz (35), selbst Cellistin, warnt: «Klassische Musik erfreut sich nach wie vor grosser Beliebtheit beim Publikum. Wenn man will, dass Schweizer Künstlerinnen und Künstler die gleichen Chancen haben wie ihre europäischen Kollegen, muss SRF dieser Verantwortung nachkommen. Andere Sender in Europa sind viel aktiver.»
Transparenzhinweis: Raphael Rauch war von 2017–2018 Religionsredaktor bei Radio SRF 2 Kultur. 2020 hat er eine Podiumsdiskussion moderiert, an der Susanne Wille und Lukas Bärfuss miteinander diskutierten.