Es begann alles so harmlos. Der nigerianische Sozialhilfebezüger Kofi F.* will Ende Mai vom Sozialdienst der Stadt Lenzburg AG 180 Franken zurückerstattet haben. Er hatte die Rechnung für den Spielgruppenbesuch seiner Kinder bezahlt, das wird ihm nun wieder gutgeschrieben. Bloss: F. will das Geld sofort – und fordert das in harschem Ton via E-Mail (liegt BLICK vor) ein.
Der für ihn zuständige Mitarbeiter der Sozialen Dienste teilt ihm daraufhin mit, dass Überweisungen erst in fünf Tagen getätigt werden. Aber ein Lösungsvorschlag: Er könne das Geld problemlos noch am gleichen Tag beim Schalter abholen kommen, wenn er es denn sofort brauche.
Alles klar? Nicht für Kofi F.! Er will das Geld sofort überwiesen haben – und verliert die Nerven: «Schliesslich brauchen wir die 180 Franken heute (...) Sie legen lediglich Dummheit, Hass, Unprofessionalität und vor allem Rassismus an den Tag! Und die ganze Welt wird Sie auch so wahrnehmen!»
Gegenüber BLICK erklärt F. den Wutausbruch damit, dass Lenzburg immer wieder Leistungen für seine Kinder nicht zahlen wolle. Er bekommt monatlich rund 4000 Franken Sozialhilfe.
Der Mitarbeiter versucht daraufhin, zu deeskalieren. Erfolglos. Am Ende schreitet der Leiter der Sozialen Dienste, Michael Gruber, ein – und droht Kofi F. wegen seiner wüsten Beleidigungen mit rechtlichen Massnahmen.
Es sind Szenen wie diese, die in den Sozialen Diensten in den Gemeinden der Schweiz täglich vorkommen. Und die von den Mitarbeitern an der Front ausgehalten werden müssen.
«Diese Menschen sind in einer Notlage»
Und sie kriegen alles ab, wie Michael Gruber von den Sozialen Diensten Lenzburg sagt. Beschimpfungen, Drohungen, ja sogar tätliche Angriffe. Er weiss: «Es gehört zum Job eines Mitarbeiters der Sozialen Dienste, damit umgehen zu können.»
Denn man dürfe nicht vergessen, dass Menschen, die Sozialhilfe benötigten, immer in einer absoluten Notlage seien. «Da brauchte es manchmal wenig bis zu einer Eskalation, weil sich bei diesen Menschen viel Frust anstaut. Sie haben im Alltag hart zu kämpfen und sind stark eingeschränkt in vielem, was sie tun möchten», so Gruber.
Mit dem Resultat, dass sich die Mitarbeiter mitunter gar schützen müssen. «Bei schwierigen Gesprächen lassen Teamkollegen die Türen ihrer Büros offen, damit sie notfalls helfen könnten, wenn die Sache eskaliert», sagt Gruber. Auf den Besprechungstischen gibt es zudem einen Alarmknopf, den Mitarbeiter drücken können, wenn es gefährlich wird. Und notfalls kommt die Polizei.
«Wir sind Treuhänder und helfende Hand»
Priska Brenner aus Zürich und die pensionierte Berufsbeiständin und heutige Privatbeiständin Helen Heim Hueber aus Frauenfeld TG kennen die Herausforderungen in ihrem Beruf. Sie werden von der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) eingesetzt für Menschen, die mit ihrem Alltag überfordert sind und daran zu scheitern drohen.
«Das können ältere, körperlich kranke oder schwer verunfallte Menschen sein. Manche leiden an psychischen oder Suchterkrankungen. Hier treffen wir auf ganz unterschiedliche Verhältnisse», sagt Brenner. Gibt es keine Angehörigen oder Dritte, die für diese Menschen die Dinge regeln können, setzt die Kesb Profis wie Brenner oder Heim ein.
Brenner macht das bereits seit 16 Jahren. Und spricht von einem hoch abwechslungsreichen, aber auch manchmal herausfordernden Job. «Wir verwalten die Finanzen, organisieren die medizinische Betreuung, sind mal Liegenschaftsverwalter, mal Treuhänder, dann wieder helfende Hand in Lebenskrisen und doch auch Manager, die schwierige Entscheidungen gemeinsam mit den Verbeiständeten oder an deren Stelle treffen müssen», sagt sie.
So müsse sie bei finanziellen Notlagen Häuser dieser Menschen in den Verkauf geben oder Wohnungsreinigungen und Wohnbegleitungen organisieren. Und manchmal gar der Polizei helfen, vermisste Menschen, die einen Beistand haben und plötzlich untertauchen, wiederzufinden.
An mehr als 100 Beerdigungen
Helen Heim, die seit sechs Jahren pensioniert ist, bringt es auf den Punkt: «Ich kann mir keinen spannenderen Job vorstellen! Aber: Er geht auch an die Substanz.» An mehr als 100 Beerdigungen sei sie schon gewesen, sagt Heim. Von Menschen, für die sie von Berufs wegen in deren letzten Jahren der Beistand gewesen ist. «Ich besuche diese Beerdigungen bewusst dann, wenn die verstorbene Person sonst gar niemanden ausser dem Pfarrer und dem Totengräber bei der Beisetzung bei sich hätte», sagt sie.
Auch Brenner besucht immer wieder Beerdigungen von Personen, für die sie Beistand war. «Um einen Weg abzuschliessen, aber auch, um mir selbst präsent zu halten, dass ich mit Menschen zusammenarbeite – und es nicht mit Fallnummern zu tun habe», sagt sie. Doch so abwechslungsreich und spannend der Job der Berufsbeistände klingt: Ihnen schlagen immer mal wieder auch Aggressionen entgegen.
Kein Wunder: Die Kesb ist für viele Menschen ein Reizwort. Die Behörde, die 2013 eingesetzt wurde und die früheren Vormundschaftsbehörden abgelöst hat, löst bei einigen Menschen Angst aus. Davon kriegen auch die Berufsbeistände etwas ab.
«Wir werden auch mal angeschrien, beleidigt oder bedroht – da ist man dann froh, hat man ein Team hinter sich, um damit umgehen zu können», sagt Helen Heim. Nebst den Anfeindungen gibt es aber auch noch eine hohe Fallbelastung, die den Mitarbeitern zusetzt.
Priska Brenner betreut derzeit rund 75 Menschen, davon ist sie bei 44 in mehr oder weniger grossem Umfang die Beiständin. «Nicht alle Mandate, die ich betreue, sind gleich aufwendig – trotzdem ist die Arbeitsbelastung so gross, dass ich manchmal wirklich an meine Grenzen komme.»
Corona sorgt für Mehrarbeit
Etwas, mit dem auch Michael Gruber von den Sozialen Diensten in Lenzburg kämpft. «Wie überall haben auch wir enorm Mühe, genügend Mitarbeiter für diese Aufgaben zu finden. Die Arbeitsbelastung ist extrem hoch – hier in Lenzburg rechnet man mit 80 Dossiers pro 100-Prozent-Stelle – und die Bezahlung widerspiegelt nicht die Komplexität und Schwierigkeit des Berufs», sagt er. Ein Beweis dafür, dass die Bedingungen in diesem Job nicht gut sind, ist die enorm hohe Fluktuation in diesem Bereich.
Und die Belastung wird wohl noch zunehmen, wie Gruber mit Blick auf die Corona-Krise sagt. «Wir erwarten Ende nächsten Jahres wesentlich mehr Fälle für die Sozialhilfe», sagt er.
*Name bekannt
• Er rastete immer wieder aus. Gegen eine Kesb-Mitarbeiterin allzu massiv. Am 25. Juni 2020 verurteilte das St. Galler Kreisgericht Wil einen IV-Rentner (39), weil er seine Beiständin bedrohte. «Ich werde Sie töten», sprach er ihr auf den Anrufbeantworter. Dafür bekam er eine sechsmonatige Freiheitsstrafe, die zugunsten einer ambulanten Therapie aufgehoben wurde.
• Für Aufsehen sorgte auch der Angriff auf eine Lehrerin aus Dietikon ZH im September 2017. Einer Mutter (42) wurde zuvor von der Kesb das Kind entzogen. Die Schuld sah sie bei der Lehrerin. Sie bedrohte diese mit dem Tod. Dafür erhielt sie eine bedingte Geldstrafe von 1000 Franken.
• Deutlich härter bestraft wurde im September 2017 ein Aargauer (51), der auf Facebook gegen die Kesb hetzte. Man solle Kesb-Mitarbeiter in ein Vernichtungslager stecken, ihm die Köpfe der Leute bringen und sie vorher quälen, schrieb er. Das Aargauer Bezirksgericht Rheinfelden verurteilte ihn wegen öffentlicher Aufforderung zu Verbrechen zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten.
• Die heftigsten Hass-Reaktionen löste der Fall in Flaach ZH aus. Eine Mutter (†27) erstickte an Neujahr 2015 ihre Tochter (†2) und ihren Sohn (†5), nachdem diese fremdplatziert worden waren. Später nahm sie sich in der U-Haft das Leben. Die zuständige Kesb Winterthur wurde deshalb massiv bedroht. Mitarbeiter brauchten Polizeischutz! Heute zeigt eine Untersuchung, dass die Behörde keine Fehler machte. Dennoch formierte sich aus den Protesten sogar eine politische Bewegung (die sogenannte Kesb-Initiative), die allerdings zurückgezogen wurde.
• Im Juli 2014 rief ein Basler (33) mehrere Behörden an und drohte mit Bombenanschlägen. Grund: Er durfte seine Tochter nicht sehen. Zuvor beschimpfte er eine Mitarbeiterin der Kesb telefonisch. Dafür erhielt er im Juli 2015 eine unbedingte Freiheitsstrafe von neun Monaten. Sie wurde aufgehoben – zugunsten einer ambulanten Therapie. (hii)
• Er rastete immer wieder aus. Gegen eine Kesb-Mitarbeiterin allzu massiv. Am 25. Juni 2020 verurteilte das St. Galler Kreisgericht Wil einen IV-Rentner (39), weil er seine Beiständin bedrohte. «Ich werde Sie töten», sprach er ihr auf den Anrufbeantworter. Dafür bekam er eine sechsmonatige Freiheitsstrafe, die zugunsten einer ambulanten Therapie aufgehoben wurde.
• Für Aufsehen sorgte auch der Angriff auf eine Lehrerin aus Dietikon ZH im September 2017. Einer Mutter (42) wurde zuvor von der Kesb das Kind entzogen. Die Schuld sah sie bei der Lehrerin. Sie bedrohte diese mit dem Tod. Dafür erhielt sie eine bedingte Geldstrafe von 1000 Franken.
• Deutlich härter bestraft wurde im September 2017 ein Aargauer (51), der auf Facebook gegen die Kesb hetzte. Man solle Kesb-Mitarbeiter in ein Vernichtungslager stecken, ihm die Köpfe der Leute bringen und sie vorher quälen, schrieb er. Das Aargauer Bezirksgericht Rheinfelden verurteilte ihn wegen öffentlicher Aufforderung zu Verbrechen zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten.
• Die heftigsten Hass-Reaktionen löste der Fall in Flaach ZH aus. Eine Mutter (†27) erstickte an Neujahr 2015 ihre Tochter (†2) und ihren Sohn (†5), nachdem diese fremdplatziert worden waren. Später nahm sie sich in der U-Haft das Leben. Die zuständige Kesb Winterthur wurde deshalb massiv bedroht. Mitarbeiter brauchten Polizeischutz! Heute zeigt eine Untersuchung, dass die Behörde keine Fehler machte. Dennoch formierte sich aus den Protesten sogar eine politische Bewegung (die sogenannte Kesb-Initiative), die allerdings zurückgezogen wurde.
• Im Juli 2014 rief ein Basler (33) mehrere Behörden an und drohte mit Bombenanschlägen. Grund: Er durfte seine Tochter nicht sehen. Zuvor beschimpfte er eine Mitarbeiterin der Kesb telefonisch. Dafür erhielt er im Juli 2015 eine unbedingte Freiheitsstrafe von neun Monaten. Sie wurde aufgehoben – zugunsten einer ambulanten Therapie. (hii)