Der Brudermord und das Schweigen danach

Publiziert: 07.12.2006 um 15:28 Uhr
|
Aktualisiert: 30.09.2018 um 22:46 Uhr
Von Hansjörg Schertenleib

Es ist ein Ort wie tausend andere in der Schweiz. Doch dunkle Schatten liegen über Mümliswil. Hier erschoss Günter S.* am 23. Oktober seinen Bruder Werner. Der Schriftsteller Hansjörg Schertenleib besuchte ein Dorf, in dem nichts mehr so ist, wie es einmal war

Schon um 16.30 Uhr liegt die tief in die Jurakette eingefräste Klus bei Balsthal SO im Schatten, als habe jemand das Licht abgedreht. Schloss Alt-Falkenstein ob dem Ort, ebenfalls im Dunkeln, gemahnt an eine trutzige Vergangenheit, aber die Nachtklubs, Striplokale und Bordelle an der Hauptstrasse holen den Reisenden rasch in die Gegenwart zurück.

Hinter dem Weiler St. Wolfgang SO biegt die Strasse nach Norden ab, rechterhand thront Ruine Neu-Falkenstein und wacht über den Eingang in die Lobisei, die Klus, die der Mümliswilerbach in jahrtausendelanger Arbeit in die Hauensteinkette gefressen hat. Die Schatten kriechen unerbittlich die gewundene Strasse hoch, aber Mümliswil SO leuchtet noch genauso in der Abendsonne des späten Oktobertages wie die Jurakuppen, über die sich Wälder in den Farben des Herbstes ziehen, und die immer wieder in weissen Felsabbrüchen enden. Ein paar Kilometer weiter trennt sich die Strasse; der Passwang führt ins Baselbiet, der Scheltenpass in den Kanton Jura.

Mümliswil, 564 m ü. M., 2139 Einwohner, liegt in die Hügel des Guldentals gebettet wie das Kind in die Arme der Mutter. Bäckerei, Metzgerei, Bankfiliale, Post. Die umliegenden Berge heissen Hohe Winde, Vogelsberg und Brunnersberg, die Beizen Ochsen, Kreuz, Frieden, Traube und Schweizerhalle, an ihren Wänden hängen gerahmte Fotos vom Männerchor und von Schwingern neben Sinnsprüchen und Treicheln. In Mümliswil findet der Mensch, was er braucht, um ein geruhsames, zufriedenes Leben zu verbringen. Es gibt eine Brockenstube, ein Schneider- und ein Fotoatelier, Garagen, Coiffeure,
eine Oldie- und eine Schürli-Bar und ein Kammmuseum mit einer grossen Sammlung von Schmuck- und Frisierkämmen aus den Beständen der ehemaligen Kammfabrik. Das Schulhaus hat ein Hallenbad und eine Aula, in der Theater gespielt wird und die Dorfchöre auftreten. Mümliswil ist ein Dorf wie tausend andere in der Schweiz auch. Hier scheint die Welt in Ordnung.

Sie ist es nicht.

In Mümliswil ist die Welt aus den Fugen – und zwar seit dem 23. Oktober 2006. An jenem Montag betritt der 38-jährige Günter S. kurz nach 7 Uhr die Spenglerei
seines sieben Jahre älteren Bruders Werner. Nach kurzem Streit, böse Worte gehen hin und her, zieht der Jüngere eine Waffe und schiesst auf den Älteren. Werner will flüchten, Günter schiesst weiter, feuert in den Bruderrücken, Schuss um Schuss, kaltblütig, ohne Gnade. Ein Angestellter muss sich mit einem Sprung in Sicherheit bringen, dann steigt der Mörder in sein Auto und flüchtet.

Der Handwerker schlägt Alarm, aber als Ambulanz und Polizei am Tatort auftauchen, ist Werner S. tot. Eine Viertelstunde später meldet sich sein Bruder bei der Polizei und kündigt an, sich das Leben zu nehmen. Die Spezialeinheit, die sich auf die Suche macht, findet Günter S. gegen 8.30 Uhr wenige Kilometer entfernt auf einer Waldlichtung auf der «Breitenhöhe». Er hat sich erschossen.

«Wieso ausgerechnet bei uns?» Die Frau, mit der ich vor der Post ins Gespräch komme, hält ihre Einkaufstasche fest, als könnte ich sie ihr entreissen, ich, der Fremde, den sie hier noch nie gesehen hat. Sogar ihr Hund sieht mich misstrauisch an. «Ich verstehe es nicht. Es ist doch so schön hier bei uns!», sagt sie und wiederholt den Satz gleich noch einmal: «Es ist doch so schön hier bei uns!» Als könnte Schönheit das Grauen bannen. Heisst das, frage ich die Frau, dass sie sich einen Ort vorstellen kann, an dem ein solches Verbrechen geschehen darf, einen Ort, an dem es nicht so schön ist wie in Mümliswil? Sie findet meine Frage unanständig, schüttelt entsetzt den Kopf und lässt mich stehen.

Das freundliche Gesicht des älteren Mannes, der vor seinem Einfamilienhaus Blätter vom Rasen recht, wird zur Maske, als ich ihn frage, ob er mir den Weg zur Lichtung beschreiben kann, auf der sich Günter S. gerichtet hat? «Ich will gar nicht wissen, wo das ist», sagt er, «sonst ist der Wald auch nicht mehr, was er vorher war.»

Was das heisst? Der Mann sieht mich kopfschüttelnd an: «Ja, was wohl? Dass ich nicht mehr in den Wald will, in dem er es gemacht hat!» Bedeutet das letztlich nicht, dass er von Mümliswil wegziehen muss? «Blödsinn! Dieses Dorf macht keiner kaputt! Keiner! Und jetzt lasst uns in Frieden!», wettert er und hebt den Rechen in die Höhe.
Nun bin ich also Teil der Pressemeute, ein Geier, der kreist, der nur mit Steinwürfen vertrieben werden kann. Wer kann es dem Mann verdenken? Es gibt Situationen, in denen verbietet sich jedes Wort, Situationen, in denen jede Frage falsch und unverschämt ist, weil es keine Antwort gibt. Es gibt Tragödien, die sind zu gross, zu furchtbar. Sie lassen sich weder erklären noch verstehen, darum halten wir sie uns vom Leib. Sie zeigen uns, dass das Grauen immer ganz in der Nähe ist, denn es ist in jedem von uns. Ein Mann zum Beispiel richtet mit mehreren gezielten Schüssen aus kurzer Distanz seinen Bruder, erst von Angesicht zu Angesicht, dann in den Rücken. Schiesst auf den Bruder, mit dem er im Sandkasten sass. Mit dem er eine Kindheit teilte. Mit dem er lachte und stritt. Dem er nahe war, ob er das nun wollte oder nicht. Schiesst auf den Bruder und tötet ihn. Danach richtet er sich selbst, allein im Wald, verloren. Ein Mann erschiesst seinen Bruder und sich selbst, und die anderen gehen weiterhin einkaufen, planen Ferien, sitzen vor dem Fernseher und in der Beiz, trinken Bier und Sauser, essen Hirschpfeffer und Rehschnitzel «Mirza» und träumen und lachen und weinen – denn das Leben der anderen geht, Gott sei Dank, weiter.

Die Stimmen der Männer am Stammtisch im Ochsen sind so laut und rechthaberisch wie an jedem anderen Stammtisch auch. Die Büezer und Gewerbetreibenden reden über das milde Wetter, die Ferien, Motorräder, Versicherungen und die Metzgete in den umliegenden Beizen, über den Brudermord aber reden sie nicht. Als der eine Mann wissen will, ob die anderen an der Beerdigung gewesen seien, erntet er ausweichende Antworten, und es wird für eine Weile still. «Hesch äs Kerzli?», fragt er seinen Nachbarn. «Spinsch!», sagt der und bestellt noch eine Stange. Dann reden sie über das, worüber man in jedem anderen Dorf auch redet.

Das Leben ist grösser als der Tod, das ist die Lüge, die uns über die Runden bringt. Die Wahrheit, dass der Tod immer über das Leben triumphiert, bei jedem von uns, ist kaum zu ertragen. Aber an was denken diese gestandenen Mannsbilder, wenn sie nachts im Bett liegen und mit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit starren? Denken sie an das Undenkbare? Hören sie die Schüsse, die sie nicht gehört haben und die doch immer und immer wieder fallen, sogar in ihren Träumen? Wonach suchen sie, wenn sie in ihren Betten liegen? Nach dem Schlüsselerlebnis, das den Täter zum Täter machte? Das ganze Leben ist ein Schlüsselerlebnis.

Was war der letzte Gedanke von Werner S.? Und an was hat Günter S. gedacht, als er wieder und wieder abdrückte? Was sahen die beiden Männer als letztes Bild, was nehmen sie mit als letzten Eindruck von dieser Welt? Das Gesicht des Bruders, der tötet? Das Gesicht des Bruders, der getötet wird?

Werner S. sah die Waffe in der Hand des Bruders, da muss er es gewusst haben. Dass er sterben wird. Oder will man es nicht wahrhaben, weil der Gedanke nicht zu ertragen ist? Sah Werner S. den Schatten, hatte er eine Vorahnung? Oft weiss der Todgeweihte, dass er sterben muss, ja sogar, wann er sterben muss. Gilt das auch für das Opfer eines Mordes?

Kündet der Tod sein Kommen auch dann an, wie Philippe Ariès in seinem Buch «Geschichte des Todes» schreibt, wenn er als Mord auftritt? Oder wird bei einem Mord selbst der Tod überrumpelt und kann sich deshalb nicht ankünden? «Der Tod», schreibt Ariès weiter, «in der Vergangenheit so allgegenwärtig, dass er vertraut war, wurde ausgelöscht. Er verschwand. Er galt als peinlich und verboten.»

Was für den gewöhnlichen Tod gilt, gilt in verstärktem Masse für einen Mord und erst recht für einen Brudermord. Er ist den Bewohnern des Orts, in dem er verübt worden ist, peinlich. Darum wollen sie nicht darüber reden. Hätten sie ihn verhindern können? Haben sie etwas übersehen? Haben sie eine Hilfe nicht angeboten, die den Mord verhindert hätte? Hinterbliebene haben den Hang, Omen und Botschaften zu sehen, wenn sie zurückschauen. Eine Gesellschaft, die alles daransetzt, glücklich zu sein und Spass zu haben, wird nichts zulassen, was eben diesen Spass stören könnte. Trauer gilt als morbide Form, sich gehen zu lassen – darum wird der Trauernde, der sich nichts anmerken lässt und der sein Leid verbirgt, anerkannt und bewundert.

Im Angesicht einer Katastrophe konzentrieren wir Menschen uns auf die Belanglosigkeit der Umstände, in denen das Undenkbare geschehen ist: auf den blauen Himmel, bevor die Schüsse fielen. Den Duft nach Kaffee, bevor die Schüsse fielen. Die Farbe des Sonnenlichts auf den Wänden der Werkstatt, bevor die Schüsse fielen. Das Geräusch der vorbeifahrenden Autos, bevor die Schüsse fielen. Wir halten uns an Details fest, die Normalität belegen, die uns beweisen, dass alles so ist wie immer.

Und dann: vorbei. Nichts ist mehr, wie es war. Nichts wird jemals wieder sein, wie es war. Mitten im Leben sind wir des Todes, sagen die Protestanten am Grab. Das Leben kann plötzlich vorbei sein. Man verlässt das Haus, die Wohnung, um zur Arbeit zu fahren, und das Leben hört auf. Es wird beendet, ausgelöscht. Zum Beispiel vom eigenen Bruder.

Hat der Brudermord Mümliswil verändert? Sehen seine Bewohner die idyllische Landschaft nun mit anderen Augen? Leiden sie nur oder trauern sie? Leid ist passiv, Leid geschieht uns. Trauer, die Auseinandersetzung mit Leid dagegen verlangt Aufmerksamkeit und muss geleistet werden. Trauern ist Arbeit. Trauert Mümliswil oder verschliesst es nur die Augen und macht weiter, als sei nichts geschehen? Kann ein Dorf trauern?

Am nächsten Morgen verzieht sich Mümliswil hinter Nebelwänden. Die Welt wird ausgeblendet, in der Totenstille bekommt jedes Geräusch Bedeutung. Leer die Strassen, menschenleer. Die Sonne drückt, es riecht nach Schnee, das Licht ist zauberhaft, grad wie im Märchen mit dem bösen Wolf. Hinter blinden Fenstern stehen regungslos Schatten. Die wenigen Menschen, denen ich begegne, wenden sich von mir ab. Keiner will mit dem Schreiber reden. Und so fahre ich und verlasse Mümliswil. Je weiter ich talwärts komme, desto dichter wird der Nebel. In Balsthal sieht man kaum die Häuser beidseits der Strasse. Die rot blinkenden Girlanden an den Nachtklubs, Striplokalen und Bordellen dagegen sind zu sehen. Die Welt hat mich wieder.

Zehn Tage nach dem Brudermord lese ich folgende Meldung in der Regionalpresse: «Dienstagmorgen ist eine Frau beim Berghof Oberberg in Mümliswil von einer 25 Meter hohen Felswand abgestürzt. Sie wurde mit schweren Kopf- und Rückenverletzungen in eine Klinik geflogen. Die Frau hatte den Bauernhof am frühen Morgen verlassen. Der Landwirt fand die Abgestürzte später am Fusse des Felsens und alarmierte die Rettungskräfte. Die Frau hatte sich vermutlich im Nebel verirrt.»

Schon wieder Mümliswil? Zufall? Fügung? Oder gehöre ich nun endgültig zu den Journalisten, die überall Verbindungen sehen und zwei voneinander unabhängige Tragödien am selben Ort zur schicksalshaften Serie hochstilisieren möchten, damit sie den Medien besser munden? Was will der Journalist auf seine Fragen hören? Antworten oder Schlagzeilen? Nein, Mümliswil ist ein Dorf wie tausend andere auch. Nur haben seine Bewohner über den Fluss gesehen, der die Lebenden von den Toten trennt. Der verhüllte Fährmann hat seinen Stock gehoben für sie, auch das haben sie bemerkt. Nun heisst es, mit diesem verstörenden Bild umzugehen und weiterzuleben.

*Namen der Redaktion bekannt

Fehler gefunden? Jetzt melden