Weshalb zieht ein US-Milliardär vom sonnigen Kalifornien ins kleine Glarner Bergdorf Schwändi? Ist es die fast unberührte Natur? Die Einsamkeit? Unter den Dorfbewohnern kursieren Mutmassungen und Spekulationen. Eine Spurensuche
von Gabrielle Kleinert (Text)
und Daniel Ammann (Foto)
Das Telefon klingelt zweimal. «Hier Ober-Kassebaum», eine tiefe Stimme. Ich frage: «Sind Sie der Herr Rechtsanwalt? Kennen Sie Herrn Ball?»
«Ja», antwortet die Stimme streng, «ich bin der Einzige, der über Herrn Ball Auskunft geben darf. Aber ich sage nur: no comment. Ich weiss, Sie müssen Ihre Arbeit machen. Aber ich auch. Guten Tag.» Herr Ober-Kassebaum legt auf, ich kann mein Interview mit Dexter Ball vergessen.
Alles andere wäre auch zu einfach gewesen – schliesslich geht es um den mysteriösen Dexter Ball. Das ist ein zurückgezogen lebender amerikanischer Milliardär, der von der Westküste der USA ins 415-Seelen-Bergdorf Schwändi im Glarner Linthtal zieht. Dort, auf 701 Meter über Meer, starten im März die Bauarbeiten für sein Schweizer Paradies.
«Reicher Amerikaner entdeckt Glarner Naturidylle» – «Der reiche Onkel aus Amerika» – «US-Milliardär nach Glarus», titelten Schweizer Zeitungen. Balls Eckdaten sind bekannt: Er ist Erbe von Ball Seed, des grössten Gemüse- und Blumensamenproduzenten der Welt, ist 63-jährig und lebt im Ruhestand im Städtchen Aptos, rund 50 Kilometer südlich von San Francisco. Er ist in zweiter Ehe mit Irina Ball verheiratet, sie soll mindestens zwanzig Jahre jünger sein. Das Paar hat sechs Kinder. Und jetzt zieht der Milliardär samt Familie in die Schweiz.
Weshalb ein amerikanischer Milliardär das tut, das erfahre ich nirgends. Ich rufe Dierk Sindermann an, Journalist aus Kalifornien – er soll in den USA recherchieren. Aber schon am nächsten Morgen schickt er per E-Mail ein ernüchterndes Résumé: «Leider habe ich nichts über Herrn Ball herausgefunden. Nicht einmal ein Bild gibt es von ihm. Und auch bei den Ortszeitungen zwischen San Francisco und Los Angeles kennt man ihn nicht. Ich kann Ihnen nicht weiterhelfen. Wo genau soll er jetzt hinziehen?»
Schwändi, Dienstagmittag, 13.57 Uhr, Dorfstrasse. Der schneebedeckte Gipfel des Glarner Hausbergs Tödi glitzert in der Sonne, der Hochnebel hat sich aufgelöst. Es riecht nach Schnee und Bergen. Das Dorf liegt einsam da. Kein Milliardär, keine Limousine, nicht einmal eine Schwänder Katze zeigt sich. Eine unwirkliche Stimmung – als ob die Zeit hier oben langsamer tickt. So ruhig ist es in Aptos bestimmt nie.
Auf dem Weg zum Gemeindehaus begegnet mir ein Mann mit Wollkappe. Ob er den Milliardär kennt? «Ich habe ihn schon gesehen, er hat sich das Dorf angeschaut. Aber gesprochen hat hier, glaube ich, noch keiner mit ihm.» Auch in amerikanischen und Schweizer Mediendatenbanken findet sich kein gesprochenes Wort von Ball – und kein Bild. Davon scheint überhaupt nur ein Einziges zu existieren. Gedruckt hat es am 17. März 2004 «Die Südostschweiz», Ausgabe Glarus. Das Foto zeigt einen Mann im dunklen Anzug, breitbeinig auf einer Wiese stehend, beide Hände in die Hosentaschen versenkt. Er wendet sein Gesicht ab, scheint zu lächeln. Einzelne Schneeflecken liegen auf der grünen Wiese, es ist seine Wiese. Sein soeben gekauftes Grundstück «Weidli».
Gemeinderat Thomas Rageth kennt den Milliardär. Er bittet ins Sitzungszimmer der Verwaltung von Schwändi, dort hängt ein Parzellenplan an der Magnetwand. Balls Land trägt die Flurnummern 236, 237, 238, es ist 10 000 Quadratmeter gross.
Kennt Thomas Rageth den Milliardär wirklich so gut? «Wir waren schon zweimal gemeinsam essen», sagt Rageth, «im ‹Glarnerhof› in Glarus. Ich kenne ihn ziemlich gut. Wir duzen uns aber nicht. Zwei seiner Kinder und seine Frau waren auch einmal dabei.» Ich notiere schnell und der Gemeinderat erzählt weiter: Dexter Ball sei immer sehr bescheiden gewesen, zum Nachtessen habe er ein kariertes Hemd getragen. Er sei bodenständig, Hobbyjäger und liebe die Natur. Zum Essen mag er biologische Produkte und für die Kinder gebe es nicht jeden Tag Cola und Pommes. Die Kinder: halbjährig bis zehn Jahre alt, sehr gut erzogen und ganz normal. «Im Dorf wird erzählt, dass die älteren im Sommer zum Landdienst müssten und jetzt Deutsch lernen. Ich denke, Sie werden bei uns die Schule besuchen. Die Balls sind wirklich eine sehr sympathische Familie.»
Es ist jetzt drei Jahre her. Damals suchte der Milliardär in der Schweiz ein «... schön gelegenes Bauland». Maya Eberle, Besitzerin des Weidli, las das Inserat und verkaufte Ball 6.000 Quadratmeter Schwänder Boden. Kurz darauf stimmte die Dorfbevölkerung Balls Kaufgesuch von weiteren 4.000 Quadratmetern Bauland zu. Der einzige Schatten im neu erstandenen Paradies: Seit Jahrzehnten verlief ein grauer Streifen Asphalt über das Weidli – die Kantonsstrasse. Der Milliardär zögerte nicht lange und liess den Schandfleck auf einer Länge von 150 Metern talabwärts verlegen. Dafür zahlte er eine halbe Million Franken. Einsprachen gab es keine. Die Schwänder sind eben ein gastfreundliches Volk.
Vielleicht zieht Ball deshalb nach Schwändi, wegen der Gastfreundschaft? «Ja, er war sehr beeindruckt vom Zusammenleben der Gemeinschaft hier oben», glaubt Thomas Rageth, «aber auch die Kombination von Dorf und einsamer Natur auf dem Weidli hat ihn beeindruckt. Das ist schon etwas anderes als in Kalifornien! Dort ist abgelegen wirklich abgelegen. Zürich und der Flughafen sind von hier aus in einer Stunde zu erreichen, das freute seine Frau: ‹Ein Katzensprung›, sagte sie.» Rageth legt ein Buch über die Geschichte Schwändis auf den Tisch. Ball hat sich die 208 Seiten übersetzen lassen – er will seine neue Heimat wirklich sehr genau kennen lernen. Ich auch.
Wir fahren los; nur drei Minuten später parkiert Rageth vor einem alten, leer stehenden Haus. Der Teer auf der neuen Strasse ist noch schwarz. Neben dem Gebäude, auf einem schräg abfallenden Grundstück, stehen acht Bauprofile. Es ist ruhig, Wind rauscht durch kahle Bäume am Waldrand, der Blick von hier geht weit: ins Sernftal, hoch hinauf zum Gipfel des Kärpf und in den blauen Himmel. Das Land ist eine Sonnenterrasse, ein guter Ort fürs Paradies. Das kostet. 6,5 Millionen Franken will Ball für sein Wohnhaus hinblättern. Eine klassizistische Fabrikantenvilla soll es werden – Vorbild ist ein Gebäude, das an der Lidostrasse Nr. 6 in Luzern steht.
Die Baupläne der Architekten Kocher & Olah sind längst gezeichnet, jetzt liegen sie auf der Gemeindeverwaltung öffentlich auf und alle Schwänder können begutachten, wie ihr Milliardär hausen wird. Mit einer Baumallee als Einfahrtsweg, einer Fassade mit Kranzgesims und Fensterrahmen aus Sandstein. Mit Balkonen gegen Süden, Osten und Westen, einer doppelstöckigen Eingangshalle mit breiter Treppe, mit Lift und unterirdischer Garage nebst Auffahrtsrampe. Mit vier Cheminées in der Bibliothek, dem Wohnzimmer, Esszimmer und Schlafzimmer der Balls. Mit holzbefeuertem Pizza-Ofen in der Küche und Kochinsel mit acht Herdplatten. Im Dachstock sind sogar zwei «Lernzimmer» für die Kinder geplant. Und weil ein guter Katholik regelmässig zur Kirche geht, lässt Ball eine Kapelle in die Villa einbauen. Der Milliardär ist sogar so erzkatholisch, dass er bereits Mönch Leonhard vom Franziskanerkloster in Näfels GL gebeten hat, die Kinder in der christlichen Lehre zu unterweisen.
Später bringt mich Thomas Rageth zum Glarner Bahnhof und sagt zum Abschied: «Uns geht es gut, wir haben nicht auf den Milliardär gewartet. Aber Familie Ball ist bei uns herzlich willkommen.»
Auch bei der Steuerverwaltung ist Familie Ball herzlich willkommen: Der Zuzug der Familie soll ein Fünftel mehr Geld in die Dorfkasse spülen – damit ist die Existenz der Schule für die 45 Kinder und des kleinen «Spar»-Ladens gesichert. Sogar über eine Steuersenkung wird im Dorf spekuliert. Und worüber sonst noch?
Ich rufe Barbara Zimmermann an, sie ist Präsidentin des Dorfvereins und neu gewählte Gemeinderätin. Ob sie Dexter Ball schon einmal gesehen hat? «Kommen Sie morgen zum Mittagessen, dann können wir reden», sagt sie. Sie ist sehr spontan.
Am nächsten Tag sitze ich am Mittagstisch bei Familie Zimmermann. «Balls Kinder werden vermutlich nicht in die Schwänder Schule gehen. Die bekommen einen Privatlehrer», sagt Barbara Zimmermann, sie schöpft Salat aus einer riesigen Holzschüssel, «ich denke, damit die Familie flexibel reisen kann und nicht hier in Schwändi festsitzt.» «Die Schule ist obligatorisch», wendet ihr Mann Christoph Zimmermann ein, er arbeitet auf der Erziehungsdirektion des Kantons, «der Lehrstoff kann aber auch mit privaten Lektionen unterrichtet werden.»
Am Mittagstisch kursieren jetzt Mutmassungen, Ahnungen und Spekulationen – im Dorf wird nun mal viel geredet und zwischen Teigwaren und Salat wirds richtig glamourös: Durchs Dorf fahrende Mercedes- und Jaguar-Limousinen seien schon beobachtet worden. Oder der Learjet, damals im Sommer, der ist sehr tief über Schwändi geflogen. Und erst der Privatflugplatz Mollis GL, dessen Landebahn genau die richtige Länge für Balls Jet hätte. Und überhaupt: Niemand im Dorf habe den Milliardär je richtig gesehen!
Aber wieso zieht es einen amerikanischen Milliardär ausgerechnet nach Schwändi? «Unsere Lage», vermutet Barbara Zimmermann, «oder weil er sonst nichts Schönes gefunden hat.»
Recht hat sie, Frau Zimmermann: Milliardäre müssen nun mal irgendwo wohnen. Und Schwändi ist ein wirklich guter Ort dafür.