Foto: Instagram

Buch über kontroverse Twitter-Suche nach einem Obdachlosen
Der Internet-Star, der seinen totgeglaubten Vater wiederfand

Norman Wolf (26) erzählt in einem Buch, wie er seinen obdachlosen Vater zwölf Jahre nach dessen Verschwinden mit Hilfe von Twitter in Hamburg aufspürte – und damit eine Kontroverse auslöste.
Publiziert: 24.08.2019 um 16:15 Uhr
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Aktualisiert: 27.08.2019 um 11:46 Uhr
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Dieses Foto vom Wiedersehen stellte Norman Wolf ins Netz.
Jonas Dreyfus

Norman Wolfs Geschichte hat mehrere Anfänge. Für den Internet-Star, der sich mit seelischem Wohlbe­finden befasst, beginnt sie in seiner Kindheit in einem Dorf in der Nähe von Frankfurt, wo er mit seinen Eltern und einem älteren Bruder aufwächst.

Für die Öffentlichkeit beginnt sie mit einem Beitrag, den Wolf am 25. Dezember 2017 auf der Online-Plattform Twitter veröffentlicht: «Ich suche meinen Papa», heisst es in diesem sogenannten Tweet. «Er ist obdachlos und soll in Hamburg leben. Sein körperlicher Zustand ist vermutlich äusserst schlecht.»

Wolf bittet darum, die Info weiterzuverbreiten. Dazu stellt er ein Foto ins Netz. Es zeigt einen alten, verwahrlosten Mann, der offenbar in einem Bankomatenraum auf einem Heizkörper sitzt. Neben ihm steht eine Flasche Bier.

Der Tweet verbreitet sich wie ein Lauffeuer – er geht viral. Nach nur einer Stunde haben ihn 4000 Menschen, am Ende des Tages sogar 12'000 weiter­verbreitet. Einige von ihnen geben Adressen von Organisationen an, die Obdachlosen helfen.

Ein Au-pair im Zentrum des medialen Interesses

Wolf lebt damals in Boston, USA, wo er ein Jahr lang als Au-pair arbeitet. Journalisten aus Deutschland melden sich bei ihm. Medien wie die «Bild», RTL und die «Süddeutsche Zeitung» berichten über den Fall. «Der verlorene Vater – ein Twitter-Märchen», schreibt SRF auf seinem Online-Portal.

6000 Personen folgen Wolf zu diesem Zeitpunkt auf Twitter. Fans, die ihm Mut machen. «Ein grosses, warmes Herz voller Liebe sende ich dir, Norman», schreibt einer. «Was hier gerade abgeht, wird für mich eindeutig die prägendste Erinnerung an Weihnachten 2017 sein», ein anderer.

Doch es kommt auch zu nega­tiven Reaktionen. Ob sein Vater überhaupt gefunden werden wolle, fragt ein Twitter-Nutzer, und wirft Wolf vor, einem ahnungslosen Randständigen einen Mob auf den Hals zu hetzen.

Der Vorwurf, ein Social-Media-Star wolle hier mit einer miesen Masche seinen Bekanntheitsgrad steigern, wird immer lauter. Wörter wie «übergriffig» und «rücksichtslos» tauchen in den Kommentaren auf. Als Wolf später verkündet, ein Buch über die Sache schreiben zu wollen, schlägt ihm blanker Hass entgegen.

Jetzt sitzt Wolf vor der Kamera seines Laptops, um via Skype Fragen zum Buch mit dem Titel «Die Fische schlafen noch» zu beant­worten – und der Interviewer merkt sofort: Die Kritik an seinem Vor­gehen hat ihn erst recht dazu ­angespornt, die Suche nach seinem Vater niederzuschreiben.

«Papa ist zwar eine prominente Person im Buch», sagt er, «aber ­am Ende ist es immer noch meine Geschichte. Ich habe ein Recht darauf, sie zu erzählen.»

Wenn der Vater für eine Windjacke sein Leben riskiert

Norman war als Kind das Nesthäkchen der Familie und das Lieblingskind seines Vaters. Der Dachdecker nimmt ihn zum Fischen mit und sagt immer, dass sein Sohn es einmal besser haben soll als er. Als der Wind Normans Windjacke einmal auf die Fahrbahn einer Autobahn bläst, holt sein Vater sie zu Fuss von der mittleren Spur.

Das ist fahrlässig und passt zum Bild des unkontrollierten Alkoho­likers, zu dem Wolfs Vater immer mehr mutiert. Er verliert seinen Job, erwacht morgens im Hausgang aus dem Koma, wird ange­fahren, als er betrunken aus der Stammkneipe torkelt. Das volle Programm. Die Familie zerbricht, man sieht sich noch ein-, zweimal. Dann taucht Vater unter.

Mit zwölf hatte Wolf ihn das letzte Mal gesehen, am 16. Geburtstag das letzte Mal seine Stimme am ­Telefon gehört. Wo er wohnte, wollte Vater nicht sagen. Unterhaltszahlungen bleiben aus, die Behörden suchen ihn. Vergeblich. Irgendwann erklärt Wolf ihn für tot.

«Ständig mit dem Gedanken im Kopf herumzulaufen, dass mein Papa vielleicht noch irgendwo lebt, war unerträglich», sagt er. «Ich wollte endlich mein eigenes Leben beginnen und habe mich innerlich von ihm verabschiedet.»

Mehr als zehn Jahre nachdem er seinen Vater das letzte Mal zu Gesicht gekriegt hat, meldet sich ein unbekannter bei Wolf und sagt, dass der Totgeglaubte als Obdachloser in Hamburg lebe. Er schickt ihm das Foto aus dem Bankomatenraum, das Wolf später, an Weihnachten, für seinen Suchaufruf verwendet.

Der Nervenkrieg wird auf Twitter dokumentiert

Wolf ist schockiert und versucht, vom Unbekannten Näheres zu erfahren. Offenbar handelt es sich um einen Passanten, den Vater gebeten hat, im Internet nach seinem Sohn Ausschau zu halten. Er meldet sich nicht mehr. Am Heiligabend hält es Wolf nicht mehr aus. Er wendet sich an die Internet-Gemeinde.

Sie bringt ihn auf viele falsche Fährten. Mehrere Male verpasst Wolf seinen Vater an irgendeinem Ort, an dem ihn jemand gesehen haben will. Nach einem einmona­tigen Nervenkrieg, den Wolf auf Twitter dokumentiert, hat er endlich Glück. Nach zwölf Jahren sieht er seinen Vater am 27. Januar 2018 auf den Strassen Hamburgs wieder.

Man mag das rührend finden – und sich gleichzeitig fragen, wie aussergewöhnlich es ist, jemanden im Radius einer deutschen Grossstadt mit Hilfe von sozialen Medien aufzuspüren. Wolfs Buch ist trotzdem mehr als die Aufarbeitung ­eines Einzelschicksals.

Ein Märchen ohne Happy End

Er schreibt in schnörkelloser Sprache und mit jugendlicher Naivität über seine Kindheit und Jugend und schneidet dabei immer wieder eines der grossen aktuellen Themen der Literatur an: Wie wir mit Individuen umgehen, die am Rande der Gesellschaft leben.

Die französische Bestsellerautorin Virginie Despentes lässt den Leser mit ihrer aktuellen Trilogie «Das Leben des Vernon Subutex» erahnen, weshalb es für viele Clochards kein Zurück mehr gibt ins geordnete Leben. Édouard Louis, ebenfalls Franzose, schreibt in seinem neusten Werk über seinen Vater, für ­dessen sozialen Abstieg er «das ­System» verantwortlich macht.

Wolfs Vater, 56 Jahre alt, lebt noch immer auf der Strasse und will sich nicht helfen lassen. Sein Sohn kann das überhaupt nicht nachvollziehen. Genauso wie seine Kritiker, die ihm vorwerfen, seinen Papa nicht einfach mit sich nach Hause genommen zu haben.

Wolf versucht erst gar nicht, die Umstände zu analysieren, die zum Absturz seines Vaters führten. Zurück bleibt einzig und alleine das vage Gefühl, dass er ihm wohl nie wird helfen können. Das ist hart, wirkt in Wolfs Beschreibung jedoch so unverfälscht und direkt wie die Tweets, die er postet. 

Kontroverse um Social-Media-Auftritt

Norman Wolf nennt sich auf Twitter «Dein Therapeut». Er begann, über sein Coming-out und depressive Gefühlslagen zu schreiben, was unter anderem Menschen anzog, die sich in labiler Verfassung befanden.

Später eröffnete er unter dem Titel «Gruppentherapie» eine Art Forum, in dem sich User über psychische Krankheiten austauschen und Rat holen können. Der deutsche Psychologenverband warf ihm vor, er suggeriere den Usern, ihnen einen Ersatz für eine professionelle Therapie bieten zu können, und gefährde Menschen, deren Hilferufe in der Flut der Online-Einträge unter­gehen.

Wolf, der gerade seinen Master in Psychologie macht, weist die Vorwürfe zurück und ­betont, dass er nur eine Plattform anbiete und nie direkt mit Usern in Kontakt trete. Sein ­Forum hat er in Absprache mit dem Psychologenverband umbenannt.

Norman Wolf nennt sich auf Twitter «Dein Therapeut». Er begann, über sein Coming-out und depressive Gefühlslagen zu schreiben, was unter anderem Menschen anzog, die sich in labiler Verfassung befanden.

Später eröffnete er unter dem Titel «Gruppentherapie» eine Art Forum, in dem sich User über psychische Krankheiten austauschen und Rat holen können. Der deutsche Psychologenverband warf ihm vor, er suggeriere den Usern, ihnen einen Ersatz für eine professionelle Therapie bieten zu können, und gefährde Menschen, deren Hilferufe in der Flut der Online-Einträge unter­gehen.

Wolf, der gerade seinen Master in Psychologie macht, weist die Vorwürfe zurück und ­betont, dass er nur eine Plattform anbiete und nie direkt mit Usern in Kontakt trete. Sein ­Forum hat er in Absprache mit dem Psychologenverband umbenannt.

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