Die Hälfte der 450 Passagiere auf dem «Gesundheitsschiff» des Fernsehdoktors Dr. Samuel Stutz ist sehr krank. Andere sind gern krank. Und ein paar wenige möchten nie krank werden. Hundert Ärzte und Medizinalexperten halten sich für sie alle an Bord bereit
Text: Margrit Sprecher
Fotos: Susanne Völlm
Noch nie hat der Kapitän der «Grand Voyager» so viele verletzte Passagiere an Bord gehabt. Vorsichtig schüttelt er verbundene Arme, behutsam umfasst er pflaster-umwickelte Hände. Rücksichtsvoll weicht er ihnen aus, wenn sie ihm, ein Röntgenbild an sich gepresst, morgens um sieben auf Deck entgegenschwanken oder durch die Korridore irren und vergeblich die Kajüte eines Arztes suchen.
Der Kapitän kennt sich selbst kaum mehr aus auf seinem Schiff. Wo gestern noch der Kinderclub war, ist heute ein
Osteoporose-Zentrum; aus dem Fitnessraum wurde eine Herzstation. Im Beauty-Salon hantieren jetzt die Dermatologen, und in der Bibliothek haben sich die Zahnärzte eingerichtet. Da der Behandlungsstuhl zu breit für die Schiffstüren war, musste ihn ein eilends nach Venedig geflogener Mechaniker in Stücke zerlegen. So was, sagt Captain Antonio Toledo, habe er noch nie erlebt: «Passagiere, die in den Ferien freiwillig zum Dentisten gehen.»
Er ist halt gratis wie die andern dreissig Ärzte und siebzig Fachpersonen auf dem Schiff auch. Das bedeutet für die Passagiere viel Planungsstress. «Man schafft immer zu wenig», seufzt ein Aargauer Ehepaar, das schon zum zweiten Mal mitfährt und diesmal beim Medi-Shopping gezielter vorgehen will. Es hat keine Zeit, um zuzuschauen, wie Venedigs Paläste – in der Abendsonne wie Perlmutt schimmernd – am Horizont verschwinden. Denn drunten im dunklen Schiffsbauch fliesst schon das Blut. Bolzen bohren sich in Fingerkuppen, Nadeln stechen in Armbeugen. Kaum verbunden, hasten die Passagiere – treppauf und treppab – zum nächsten Termin. Verschwinden im Labyrinth der Korridore, erscheinen auf einem unbekannten Deck und stehen schon wieder beim Diabetes-Rondell. Wo aber, gopfriedstutz, ist das Magen-Darm-Zentrum? Und wo die Kopfweh- und die Arthrose-Station?
Auf der Treppe federt ihnen Fernseharzt Dr. Samuel Stutz entgegen. Auch in Fleisch und Blut sieht er aus wie auf dem Bildschirm: das Gesicht gerötet vor Begeisterung für die eigene, gute Sache und in Gedanken schon am nächsten Ort. Zum vierten Mal kreuzt sein Gesundheitsschiff diesen Herbst durchs Mittelmeer. An Bord: 450 Rentner und Rentnerinnen, die alle gängigen Krankheiten mitbringen. Die meisten sind selbstverschuldet. «Übergewicht und fehlende Bewegung», diagnostiziert er mit gewohntem Schwung. «Typisch Nachkriegsgeneration. Kann sich alles leisten und haut dabei über alle Stränge.» Kurze Pause, um einer Frau Platz zu machen, die auch beim zweiten Versuch die dritte Treppenstufe nicht schafft. Rückwärts kehrt sie zum Lift zurück. Bitte – besser könnte man «den gesundheitlichen Super-GAU, vor dem hier die Hälfte steht», gar nicht demonstrieren. Dann eilt er weiter zum Nachtessen, im Schlepptau die Gattin und zwei seiner Kinder.
Der Mehrzweck-Promi
Der Weg in den Speisesaal führt an Fotos mit blutig-entblössten Zahnhälsen und einem Bildschirm vorbei, auf dem Chirurgenhände in einer Wunde wühlen. Der Anblick tut dem Appetit der Passagiere keinen Abbruch. Wie krank sie auch sind – mühelos schaffen sie mittags und abends die vier Gänge und füllen den Frühstücksteller randvoll mit Eiern, Würstchen und Speck. Ein Mann mit Rückenschmerzen, dem bisher noch kein Arzt helfen konnte, kehrt mit einem Dänischen Plunder, einer Hefeschnecke und einem gefüllten Hörnchen vom Buffet zurück. «Lieber morgens richtig essen», sagt er halbwegs entschuldigend zur Tischrunde. Doch die interessiert sich ohnehin nur für den eigenen Teller – und die eigenen Gebresten. Was sind schon die erhöhten Blutfettwerte des Nachbarn, verglichen mit dem eigenen PSA-Wert von 5,2.
Überhaupt ist jede Ablenkung vom eigenen Elend unerwünscht. Wirkungslos prallt das Lächeln der Kellner von ihren Gesichtern ab. Vergeblich wedelt die Sängerin beim Welcome-Apéro mit ihrer Stola und schliesst bei «Feelings» die Augen – die Passagiere kreuzen derweil die Vorträge und Workshops vom nächsten Tag an. Auch Landausflüge sind nur lästig. Ungeduldig warten sie im Schiffsalon, bis es endlich weitergeht, und lesen im Kunstlicht die Pharma-Prospekte der Sponsoren. Bord-Bestseller ist die Broschüre des Viagra-Herstellers. Die Kapitel lauten: «Sie möchten Sex-Termine am liebsten verschieben?» Und: «Peter ist stark auf dem Bau, aber schwach im Bett».
Ungestört von zudringlichen Fans, kann Walter Roderer auf Deck seine Kreuzworträtsel lösen. Er ist bereits zum dritten Mal an Bord, jedes Jahr mit einer andern Krankheit – ein Mehrzweck-Promi. Immer wieder lässt ihn Dr. Stutz erzählen, wie auf dem Gesundheitsschiff sein nicht ausgeheilter Herzinfarkt entdeckt wurde und wie er sich jetzt, dank zweier Stents, wieder «vögeliwohl» fühlt. «So wichtig ist Vorsorge!», ruft Dr. Stutz ins Mikrofon. «Ihr Auto lassen die Leute regelmässig checken; ihre Gesundheit ist ihnen egal. Und dann kommts zum Totalschaden!»
Augen und Brust für sie, Herz und Prostata für ihn
Der Ernst ihrer Lage scheint freilich den wenigsten Passagieren bewusst. Durchaus geschmeichelt schaut ein ehemaliger Chauffeur zu, wie eine Assistentin beide Arme benötigt, um seinen Bauchumfang zu messen. Unbeeindruckt nimmt er seinen Diabetes-Risiko-Pass entgegen: Alle Werte liegen im alarmroten Feld. Es wird schon die richtige Pille dagegen geben. Eine Frau, in wallende Gewänder gehüllt, hat erst auf dem Schiff entdeckt, dass sie keine zehn Meter mehr gehen kann. «Zu Hause fährt mein Mann das Auto bis vor die Haustür, und im Shopping-Center stütze ich mich jeweils auf den Einkaufswagen», lächelt sie. Dr. Stutz wirds schon richten.
Der Patient ist der Player, der Arzt der Coach
Morgens um sechs wirft die aufgehende Sonne ihre erste goldene Bahn über das bleigraue Meer. Sachte schiebt sich die «Grand Voyager» in den Hafen von Rhodos. Immer näher rücken die schachtelförmigen Häuser, immer grösser werden die Menschen auf dem Pier. Doch der pensionierte Beamte und seine Frau – sie gehören zu den wenigen, denen nichts fehlt – schauen nicht auf. Tief über ihre blauen Patientenheftchen gebeugt, vergleichen sie die Termine. Augen, Brust, Rücken und Venen für sie; Gelenke, Herz, Prostata und Zahnarzt für ihn. Da liegt der Landausflug nicht mehr drin. «Man sieht ohnehin alles von hier», tröstet der Ehemann.
Zudem sind sie im Rückstand mit ihrer persönlichen Buchhaltung, dem Return of Invest. Mit zwanzig Arztbesuchen, hatten sie ausgerechnet, holen sie die fünftausend Franken Reisekosten (pro Paar) praktisch wieder rein. Allein das Brust-Screening, die Knochendichte-Messung, der Muttermal-Check und die chinesische Massage machen zusammen fast tausend Franken aus. Noch schöner: Es sind Leistungen, die die Versicherung nicht bezahlt.
Am lebhaftesten geht es auf dem Pool-Deck zu und her, wo sich das grüne Gemüse, die Siebzigjährigen, versammelt. Auch Dr. Stutz stemmt sich hier an der Reling gern gegen den Wind, immer das Handy am Ohr, durchpulst vom burschikosen Charme des ewig jugendlichen Revolutionärs. Schluss mit dem Herrschaftsmonopol der Ärzteschaft! Jetzt wird ihr Code geknackt, der unverständliche Mediziner-Jargon. «Wie Luther, der die Bibel auf Deutsch übersetzte und die Menschen damit mündig machte», möchte er das Wissen an seine Passagiere weitergeben. «Player sind heute die Patienten. Der Arzt ist nur mehr der Coach auf dem Spielfeld». Und auf die Strafbank gehört die «arrogante Clique» jener Mediziner, die immer noch nicht kapiert haben, dass «im Internet-Zeitalter das medizinische Wissen der Laien explosionsartig zunimmt».
Alles so lau, alles Routine
Die Ärzte auf dem Schiff tun sich mit dieser neuen Rolle nicht schwer. Im Gegenteil: Sie schätzen den informierten Patienten. Der Zürcher Urologe Jean-Luc Fehr, der eine revolutionäre, schonende Prostata-Operation mitentwickelte, findet «einen gewissen Wissensstand durchaus praktisch». Für den Gynäkologen und Chefarzt Ossi Köchli dagegen steht der Informationspegel seiner Patientinnen noch immer «auf erschreckend tiefem Niveau».
Ebenso locker fügen sich die Mediziner in die ungewohnte Lage, vor dem Kaffeeautomaten, im Sprudelbad und an der Bar um Tipps gegen Magensäure oder nächtliches Schwitzen gebeten zu werden. Oder in der engen Kajüte Knie an Knie mit dem Patienten zu sitzen. Wie in guten, alten Zeiten hören sie geduldig zu, wenn ihre Klienten nur reden wollen und zu immer neuen Erzählschlaufen ausholen. Keine Praxis-Assistentin stört mit einer Frage; kein Telefon klingelt; niemand stiehlt ein paar der kostbaren zwanzig Minuten, die Tarmed neuerdings – höchstens – für das Arztgespräch vorsieht. Eine ganze Stunde nimmt sich der Magen-Darm-Spezialist Beat Burckhardt von der Berner Hirslanden-Klinik Zeit für die Probleme seines Patienten – und findet heraus, dass dessen Magenschmerzen keineswegs körperliche Ursachen haben.
Verwöhnt von so viel ärztlicher Zuwendung, wächst die Erbitterung der Passagiere über die Ärzte zu Hause. Einen ganzen Tag lang wurde der Schreiner aus dem Zürcher Unterland im Uni-Spital untersucht, ohne dass ihm jemand anschliessend das Ergebnis erklärte. Ihren Hausarzt vermuten viele in den Fängen einer Krankenkasse, die zu Kostendämpfung mahnt. «Er schaut mich gar nicht mehr richtig an.» – «Er erklärt mir gar nichts.» – «Ich bin ihm wahrscheinlich zu alt.» – «Kaum sitz ich vor ihm, zückt er schon den Rezeptblock.» – «Alles so lau, alles Routine, und nach zehn Minuten fertig und adieu bis in vier Wochen.»
Etliche haben sich hinter dem Rücken ihres Arztes fürs Gesundheitsschiff angemeldet. Die einen wollen heimlich eine Kontrollmeinung einholen, weil sie ihm nicht mehr trauen. Die andern befürchten, er könnte ihnen den Seitensprung übelnehmen. Gut möglich. Besonders wenn im Wartezimmer ein Plakat vor der Kreuzfahrt und deren Folgen, «aufgeschwatzte, unnötige Operationen» und «Kostenexplosion im Gesundheitswesen», warnt.
Dr. Stutz, heute ein rostrotes Kurzarmhemd straff in die Hose gesteckt, geht bei diesen Vorwürfen auf wohlkalkulierte Weise in die Luft: «Kostenexplosion – wir machen Prävention! Die Behandlung eines Hautkrebses mit Metastasen kostet 200000 Franken. Auf dem Schiff wurden gleich drei Melanome im Frühstadium entdeckt.»
Erfolge melden nicht nur die Hautärzte. Am Schlussabend, während die «Grand Voyager», das schnellste Kreuzfahrtschiff der Welt, Marseille entgegeneilt und vor den Fenstern das nächtlich schwarze Meer vorbeirauscht, zieht Dr. Stutz im grossen Schiffssalon vor versammeltem Publikum Bilanz. Das Zahnmedizinische Zentrum Zürich Nord rettete einen Mann «vor der Verstümmelung»: Seine Paradontosetaschen hätten zum baldigen Zahnausfall geführt. In der Urologie wurden zwei Blasenkrebse plus ein Leistenbruch diagnostiziert. Das Brustzentrum fand zwölf verdächtige Knoten, drei davon mit Sicherheit gefährlich. Im Augenzentrum wurde eine Netzhaut-
Ablösung festgestellt und die Patientin noch gleichentags nach Hause geflogen, um sie vor der Erblindung zu retten. Auch das Herzzentrum des Unispitals Zürich schickte in Santorin einen Mann in die Schweiz zurück; einem anderen strich Oberarzt Dr. Holzmeister alle Landausflüge. Bei weiteren zehn Passagieren entdeckte er krankhafte Herzveränderungen.
Röntgenbilder statt Erinnerungsfotos
Am nächsten Morgen warten in Marseille 450 Passagiere auf ihre Ausschiffung, die Koffer bei Fuss. 3300 ärztliche Konsultationen haben sie in ihrer Ferienwoche absolviert. Hektoliterweise Körperflüssigkeiten wurden ihnen abgezapft, 500 Meter Verbandmaterial für ihre Verarztung verbraucht. Statt Erinnerungsfotos führen sie Röntgenbilder in ihrem Gepäck, aus handzahmen Patienten sind medizinische Guerilla-Kämpfer geworden. Bis auf die Zähne bewaffnet mit neuem Wissen, werden sie die Praxis ihres Hausarztes entern. Befunde auf seinen Tisch knallen, die er übersehen hat. Ihm seine falsch eingestellten Medikamente an den Kopf werfen. Neue Mittel und Behandlungsmethoden fordern, von denen er noch nie gehört hat. Und überhaupt: Warum verstrahlt er sie noch immer mit seinem uralten Ultraschall-Gerät, wo es doch im Zürcher Bethanien-Brustzentrum die viel ungefährlichere und genauere Mamera-Sonografie gibt und das Osteoporose-Zentrum Liestal nach der Goldstandard-Methode DXA die Knochendichte misst?
Dr. Stutz kann zufrieden sein. Wie immer hat alles geklappt. Überhaupt gabs bisher nur einen einzigen Flop: die plastische Chirurgie. Seine Klienten wollen zwar alt werden, doch wie sie dabei aussehen, ist ihnen egal.