Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Zeit der Entscheidung

Das Coronavirus hat Politiker weltweit zu schnellen Beschlüssen gezwungen. Die deutschen Intellektuellen Ferdinand von Schirach und Alexander Kluge diskutieren die Folgen – und sehen Chancen.
Publiziert: 06.06.2020 um 15:31 Uhr
|
Aktualisiert: 12.07.2020 um 02:01 Uhr
Teilen
Anhören
Kommentieren
ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

Es dürfte das erste deutschsprachige Büchlein zur Corona-Krise sein, sicher das erste nennenswerte: «Trotzdem», die Aufzeichnung zweier Ferngespräche zwischen den beiden deutschen Juristen und Schriftstellern Ferdinand von Schirach (56, «Verbrechen», «Schuld», «Strafe») und Alexander Kluge (88, «Chronik der Gefühle»). Sie diskutieren darin über die Situation Ende März, betten ihre Gedanken aber schnell in Aussagen von Vordenkern ein – wie könnte das anders sein bei Schriftgelehrten dieses Kalibers.

Der Titel ist eine Reminiszenz an Thomas Mann (1875–1955): «Aschenbach hatte einmal an wenig sichtbarer Stelle unmittelbar ausgesprochen, dass beinahe alles Grosse, was dastehe, als ein Trotzdem dastehe, trotz Kummer und Qual, Armut, Verlassenheit, Körperschwäche, Laster, Leidenschaft und tausend Hemmnissen zustande gekommen sei.» Dieser Satz aus Manns Novelle «Der Tod in Venedig» (1912) steht dem Dialog als Motto voran – bekanntlich fällt Aschenbach am Schluss der von Indien nach Venedig kommenden Cholera-Epidemie zum Opfer.

Sehen Ferdinand von Schirach und Alexander Kluge auch nach der Corona-Pandemie etwas Grosses kommen? Noch sind sie nicht entschieden. So sagt von Schirach lediglich: «Ich glaube, das Virus hat uns an eine Zeitenwende gebracht. Beides ist jetzt möglich, das Strahlende und das Schreckliche.» Es sei eine Frage der richtigen Entscheidung, etwa in einer europäischen Verfassung festzuschreiben, jeder Mensch könne über seine Daten verfügen oder habe ein Recht auf eine intakte Umwelt. «Genau jetzt ist der richtige Zeitpunkt.»

«Sie haben in Ihrem Theaterstück ‹Terror› einen Piloten der Bundeswehr entscheiden lassen», konfrontiert Kluge von Schirach mit dessen umstrittenem Bühnenwerk von 2015: Terroristen entführen ein Flugzeug mit 100 Passagieren und wollen es über einem mit 70’000 Zuschauern vollbesetzten Fussballstadion zum Absturz bringen. Gegen den Befehl der Vorgesetzten schiesst der Kampfpilot die zivile Maschine ab. Im Theater müssen jeweils die Zuschauer über den Armeeangehörigen richten – und sprechen ihn stets frei.

«Opfern wir die Minderheit der Alten und Gebrechlichen und geben sie dem Virus preis», würde dieses Urteil auf die Corona-Krise angewandt bedeuten. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die Menschen zeigen sich weltweit solidarisch und versuchen gemeinsam durch die Krise zu kommen. Auch von Schirach gibt sich geläutert und erkennt das Dilemma der Ärzte: «Können Überlebenschancen tatsächlich sicher festgelegt werden?» Und im Hinblick auf Bundeskanzlerin Merkel sagt er: «Es ist für Politiker eine furchtbare Zeit, ich bewundere, wie sie diesem Druck standhalten.»

Ferdinand von Schirach/Alexander Kluge, «Trotzdem», Luchterhand

Teilen
Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?