Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Käfersex mit Bierflaschen

Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Nicht sehr, schreibt der US-amerikanische Wahrnehmungsforscher Donald D. Hoffman und zeigt, wie uns erst Täuschungen das Überleben sichern.
Publiziert: 02.05.2020 um 11:33 Uhr
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Aktualisiert: 14.05.2020 um 16:40 Uhr
ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

Ich mag Tulpen, Tulpen sind für mich die schönsten Blumen der Welt. Besonders die ausgefransten, die jetzt im Mai blühenden Papageientulpen haben es mir angetan. Meine Partnerin findet die eher wirr. Und andere mögen einwenden, die Königin aller Blumen sei eh die Rose. Dann zitiere ich David Hume (1711–1776): «Schönheit ist keine Eigenschaft der Dinge selbst», schreibt der schottische Philosoph in seinem Buch «Von den Regeln des Geschmacks». «Sie existiert in dem Geist, der sie betrachtet, und jeder Geist nimmt eine andere Schönheit wahr.»

Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters: Diese mittlerweile landläufige Erkenntnis Humes thematisiert in seinem neuen Buch auch der Texaner Donald D. Hoffman (64), Professor für Kognitionspsychologie und führender Experte der Wahrnehmungsforschung. Hoffman belegt darin: Das Auge leistet weit mehr als eine Kamera, denn «jedes Mal, wenn wir unsere Augen öffnen, werden Milliarden von Neuronen und Billionen von Synapsen aktiv». Ein Drittel unserer am höchsten entwickelten Rechenleistung sei am Sehen beteiligt.

«Was um alles in der Welt berechnet unser Gehirn so viel, wenn wir sehen, und warum?», fragt sich Hoffman. Und er liefert gleich die Antwort: Es konstruiert uns eine Wirklichkeit. «Es konstruiert sie, da unser Auge selber weder Apfel noch Wasserfälle sieht.» Vielmehr erkenne jeder der 130 Millionen Fotorezeptoren nur, wie viele Lichtphotonen er gerade eingefangen habe. Hoffman vergleicht das mit einer Bildschirmoberfläche, auf der das Icon eines Apfels ist. Das Icon ist nicht real, sondern bloss das Ergebnis der Rechenleistung des Computers.

«Relativ real» zeigt auf, weshalb uns die Evolution so schuf. «Sie hat uns mit Sinnesorganen ausgestattet, die die Wahrheit verbergen und uns nur einfache Icons anzeigen, die uns helfen, so lange am Leben zu bleiben, bis wir unseren Nachwuchs grossgezogen haben.» Das mutet esoterisch an, doch Hoffman zeigt anhand zahlloser Beispiele, wie uns Formen und Farben, Töne und Tast eindrücke einfacher durchs Leben leiten. Wir erkennen so sofort, was unsere Fitness fördert. Und letztlich drehen sich alle Sinneseindrücke nur um einen Aspekt: das Fortpflanzungspotenzial.

Wie der Sextrieb Sinneseindrücke fehlinterpretieren lässt, beschreibt Hoffman am amüsanten Beispiel des australischen Prachtkäfers: Fortpflanzungswillige Männchen fliegen umher auf der Suche nach Weibchen, die glänzend, geriffelt und braun sind. Genauso sehen leere Bierflaschen aus, die Menschen in den Outback werfen. Deshalb versuchen die Käfer-Männchen, sich mit dem Glas zu paaren. Und weil Ameisen sich dort aufhalten und die Prachtkäfer am Penis packen und auffressen, drohen sie auszusterben. Die Rettung kommt von der Brauerei: Sie ändert das Design der Flaschen.

Donald D. Hoffman, «Relativ real. Warum wir die Wirklichkeit nicht erfassen können und wie die Evolution unsere Wahrnehmung geformt hat», dtv

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