100 Jahre alt würde der deutsche Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki am kommenden Dienstag, den 2. Juni. 55 Jahre lang prägte er das literarische Leben im deutschsprachigen Raum, sorgte mit lobenden und tobenden Rezensionen für Freund und Feind – zuerst im Feuilleton, zuletzt im Fernsehen: Sein «Literarisches Quartett» sorgte für hohe Einschaltquoten beim ZDF. Als Student schaute ich die Sendung mit Wonne und führe in Anlehnung daran bald zum 100. Mal ein privates «Literarisches Duett» mit einem Studienfreund.
«Obwohl man Marcel Reich-Ranicki gern und griffig als Literaturpapst einordnet, waren seine Werturteile keineswegs unfehlbar», schreibt der deutsche Journalistikprofessor Gunter Reus (70) in seiner kürzlich erschienenen Reich-Ranicki-Biografie. «Er irrte durchaus, und oft.» Vorbildlich sei er weniger darin, was er über Literatur gewusst und gesagt habe, so Reus weiter; vorbildlich sei, wie er es tat. Er umriss selbst in einem Zwei-Minuten-Statement fürs TV «rhetorisch ausgefeilt (…) Gegenstand, Charakter und ästhetische Anmutung eines Buches».
So sagte Reich-Ranicki über «Homo faber» von Max Frisch (1911–1991): «Was mich an diesem Roman interessiert? Mich interessiert die Geschichte einer Liebe eines 50-jährigen Mannes zu einem 20-jährigen Mädchen. Und ich lese den Roman heute und bin verblüfft, wie fabelhaft diese Geschichte geschrieben ist.» Und über «Durcheinandertal» von Friedrich Dürrenmatt (1921–1990): «Wenn alles miserabel ist, sagt man, es ist tiefsinnig, und man gewinnt der Sache etwas Raunendes ab.»
«Direktheit und Entschiedenheit in der Auseinandersetzung, Empathisierung der Sprache und Demokratisierung der Literatur durch Journalismus»: Das sind für Reus die wesentlichen Töne im Schaffen des bis heute wirkungsmächtigsten Kritikers deutscher Sprache. Tatsächlich richteten Buchhandlungen ihr Angebot immer nach der Besprechungsliste des «Literarischen Quartetts» aus: Geadelt von Reich-Ranicki war ein Bestseller sicher. Erst so kam zum Beispiel der niederländische Autor Cees Nooteboom (86) zu Erfolg im deutschsprachigen Raum.
Dass Dürrenmatt bei Reich-Ranicki auch gut wegkommen kann, belegt eine Trouvaille des Schweizer Fernsehens von 1965, auf die Reus in seinem Buch aufmerksam macht und die man auf Youtube anschauen kann: «In der Mitte des Bildes thront in einem Drehstuhl, Zigarre rauchend, der Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt, flankiert von dem ebenfalls Zigarre rauchenden Reich-Ranicki und von Hans Mayer.» Die Herren trinken Wein, sprechen druckreif, und Reich-Ranicki sagt respektvoll: «Darf man fragen?», «darf ich den Namen nennen?». Auch das ist der Literaturpapst.
Gunter Reus, «Marcel Reich-Ranicki – Kritik für alle», wbg Theiss