Für jeden Skifahrer, für jeden Snowboarder ist es die grösste aller Horrorvisionen: eine Lawine, die über die Piste donnert! Am Dienstag um 14.23 Uhr wurde aus Angst Wirklichkeit. Gewaltige Schneemassen verschütten vier Menschen unterhalb der Bergstation Plaine Morte in Crans-Montana VS. Alle werden geborgen, doch ein 34-jähriger Pistenpatrouilleur stirbt kurz darauf im Spital.
Der Schock im Wallis, im ganzen Land sitzt tief.
Es wäre falsch, als Erstes nach einem Sündenbock zu suchen oder gar ein neues Gesetz zu fordern, wie das Politiker nach einem Unglück gerne tun. Noch mehr irritiert aber, wie das Unglück jetzt husch, husch unter der Rubrik «Restrisiko» verbucht werden soll.
Der Tourismusdirektor von Crans-Montana VS sagte am Tag nach der Katastrophe zur «NZZ»: «Das Nullrisiko gibt es bei Outdoor-Aktivitäten nicht und wird es nie geben.» Der Rechtschef des Seilbahnverbandes: «Ein gewisses Restrisiko gibt es immer.» Ein Mediensprecher der Kantonspolizei Wallis: «Im Gebirge gibt es keine absolute Sicherheit.»
War also einfach eine höhere Macht im Spiel, die Unberechenbarkeit der Berge, das gebetsmühlenhaft beschworene Restrisiko?
Wer abseits einer Piste verschüttet wird, ist – keine Frage – selber schuld. Wer aber auf einer geöffneten, signalisierten Wintersportanlage unterwegs ist, der muss sich zu 100 Prozent darauf verlassen können, dass er nicht von einer Lawine verschluckt wird – 99,99 Prozent Sicherheit sind keine Sicherheit! Da darf sich niemand auf ein Restrisiko berufen. Liegt wirklich ein Restrisiko vor, darf die Piste ganz einfach nicht geöffnet werden. Für was haben wir sonst Schnee- und Windmessstationen, Wetterprognosen und Sicherheitschefs, die das Gebiet kennen und die Daten interpretieren sollten?
Art Furrer (81) ist einer der ganz wenigen, die sich trauen, offen Kritik zu üben. In der «Aargauer Zeitung» sagte der legendäre Bergführer, wie die Katastrophe von Crans-Montana hätte vermieden werden können: «Im Zweifelsfall muss man die Pisten immer sperren. Es braucht einen ortskundigen Pistenchef, der den Mut aufbringt und sagt: Ich sperre – unabhängig von kommerziellen Interessen und Kundenwünschen.»
In mehreren früheren Fällen gelangte das Bundesgericht zum selben Schluss: Pisten dürfen nur geöffnet werden, wenn die Sicherheit vollumfänglich gewährleistet ist.
Nun leitete die Staatsanwaltschaft des Zentralwallis eine Untersuchung ein. Das Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) bekam den Auftrag für ein Gutachten – obwohl ein Experte desselben Instituts im BLICK bereits die Restrisiko-Theorie propagierte: «Die Skipisten werden grundsätzlich vor Lawinen gesichert. Doch man hat nie die absolute Sicherheit, dass dort nie eine Lawine herunterkommt.»
Wer war es doch gleich, der für Crans-Montana am Dienstag bloss vor «mässiger Lawinengefahr» warnte? Ebenfalls das SLF!
So werden Instanzen, die für Sicherheit zu sorgen haben, selber zu dem, wogegen es nach ihrer Auffassung keinen Schutz gibt: zum Restrisiko!