SonntagsBlick zu Greta Thunberg
Dank Greta können wir über den Klimawandel reden

Der Klimawandel liegt jenseits unseres Erfahrungshorizonts. Bis vor kurzem hatten wir schlicht keine Sprache dafür. Greta Thunberg hat das geändert. Plötzlich kann man darüber reden wie über eine einfache Geschichte.
Publiziert: 19.05.2019 um 14:34 Uhr
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Aktualisiert: 21.05.2019 um 09:56 Uhr
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Gieri Cavelty, Chefredaktor SonntagsBlick.
Foto: Paul Seewer
Gieri Cavelty

Es ist jetzt zwei Jahre her, dass der indische Romancier Amitav Ghosh ein bemerkenswertes Buch zum Klimawandel veröffentlicht hat. «Die grosse Verblendung» ist allerdings gerade kein Roman, sondern ein Essay. Amitav Ghosh versucht darin zu ergründen, weshalb weder er selbst noch sonst jemand je einen Roman zum wichtigsten aller Themen geschrieben hat.

Da schlittert die Menschheit in die Klimakatastrophe – warum schweigt sich die Literatur dazu aus?

Die Antwort, die der Schriftsteller auf diese Frage gibt, erklärt zugleich, was heute grundsätzlich unser Problem ist, wenn es um den 
Klimawandel geht: Er sprengt jede Vorstellungskraft.

Der Klimawandel liegt jenseits unseres Erfahrungshorizonts. Wir haben schlicht keine Sprache dafür.

Das beginnt damit, wie scheinbar unendlich lange sich diese Geschichte hinzieht. Vor 100 Jahren bereits gab es Anzeichen für den Klimawandel. Die Wissenschaft prognostiziert, dass die Temperatur bis zum Jahr 2100 um sechs Grad ansteigen wird. Wobei das Schlimmste längst angerichtet ist – egal, was man heute unternimmt.

Wie sollte man sich da überhaupt einen Begriff machen können?

Von den sechs Tonnen Kohlendioxid, die jeder von uns in den letzten zwölf Monaten in die Atmosphäre gepustet hat: Um wie viel Kubiknanometer genau schmelzen deswegen die Polkappen?

Im Jahr 1575 reiste ein Junge namens James Crichton von Schottland nach Paris. Auf Plakaten liess James verkünden, er könne jede Frage in mehreren Sprachen beantworten. Leicht vorstellbar, welches Aufsehen James erregte, wie er da mit den Gelehrten parlierte – auf Arabisch, Aramäisch, Chaldäisch, 
Dänisch, Französisch, Russisch.

Das ist nun natürlich eine völlig andere Geschichte. Es ist die Geschichte eines Kinderstars, wie es sie in der Vergangenheit unzählige Male gegeben hat. Die Figur des Wunderkinds gehört seit jeher fest zum Personal des öffentlichen Lebens. Doch so faszinierend jedes einzelne Kind auf seine Zeitgenossen gewirkt hat – so rasch sind die meisten in Vergessenheit geraten. Das liegt in der Natur der Sache: Über kurz oder lang wächst der Kinderstar aus seiner Rolle hinaus.

Und damit zu Greta Thunberg. Sie ist der erfolgreichste Kinderstar unserer Tage. Am 20. August 2018 präsentierte die damals 15-Jährige vor dem Parlament in Stockholm ein Schild mit der Aufschrift «Schul-streik fürs Klima». Die Aktion hat sich inzwischen zur globalen Bewegung entwickelt.

Greta Thunberg nutzt ihren Status als Kinderstar ganz bewusst. Sie sei, hat sie einmal erklärt, überzeugt von ihrer Wirkung, «weil ich ein Kind bin. Wenn ich etwas sage, 
fühlen sich Erwachsene schuldig.»

Greta Thunberg beherrscht nicht so viele Sprachen wie einst James Crichton. Mit ihrem Klimaprotest 
indes vollbringt sie die grössere sprachliche Leistung. Plötzlich redet man über den überkomplexen 
Klimawandel als eine einfache 
Geschichte.

Was die Schriftsteller dieser Welt mit all ihrer Imagina­tionskraft nicht leisten konnten – ein Teenager hat es geschafft.

Da darf man schon mal 
applaudieren!

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