Mindestens 60 000 unschuldige Menschen wurden hierzulande im Verlauf des 20. Jahrhunderts eingesperrt und als Zwangsarbeiter ausgebeutet. Jugendliche, Frauen, Männer. Ohne Gerichtsurteil. Einfach, weil sie arm waren und nicht ins enge ideologische Korsett der damaligen Schweiz passten.
Anfang der 1980er-Jahre wurde diesem Unrechtsregime namens administrative Versorgung ein Ende gemacht. Obwohl es schon früh Kritik gab, wurde das Unrecht erst in den letzten zehn Jahren breit bekannt. 2014 wurden die Opfer dieser Quälerei offiziell rehabilitiert.
Seit 2016 beschäftigt sich eine Unabhängige Expertenkommission im Auftrag des Bundes mit der Aufarbeitung dieses vielleicht schwärzesten Kapitels der jüngeren Schweizer Geschichte. In den bisher publizierten Berichten machen die Forscher die «Gesellschaft» dafür verantwortlich. Sie schreiben über «Strukturen», «Normen», «Prozesse». Das klingt abstrakt.
Mit Alix Heiniger wird jetzt aber eine Historikerin sehr konkret. Denn wo Menschen Zwangsarbeit leisten, schlägt zwangsläufig auch jemand Profit. In der neusten Studie der Unabhängigen Expertenkommission benennt Heiniger eine Reihe von Unternehmen, welche Zwangsarbeiter beschäftigten und mithin Nutzniesser jenes Unrechtsregimes gegen die Armen waren.
Die Rede ist unter anderen vom Lebensmittelkonzern Micarna, dem Automatenbetreiber Selecta, den Elektronikproduzenten Saia und Lenco.
Diese Firmen liessen administrativ Versorgte für sich schuften: Menschen, die beispielsweise in den Gefängnissen Bellechasse im Kanton Freiburg und Hindelbank bei Bern einsassen, ohne eine Straftat begangen zu haben. Sie fertigten etwa Plattenspieler, waren in der Wäscherei oder in der Landwirtschaft tätig.
Die administrativ Versorgten werden oft in einem Atemzug mit den Verdingkindern genannt, die von Bauern als Mägde und Knechte missbraucht wurden. In der Tat sind sie allesamt Opfer des gleichen Unrechtsregimes gegen die Armen. Allerdings denkt man beim Stichwort Verdingkinder unwillkürlich an eine rückständige und damit längst untergegangene Schweiz. Die administrative Versorgung dagegen zeigt, dass sich die Unterdrückung von Menschen ohne weiteres mit moderner Technologie und Fortschrittsglauben vereinbaren lässt.
Die Historikerin Alix Heiniger macht uns bekannt mit Max Rentsch, von 1951 bis 1981 Direktor der Strafanstalt Bellechasse. Der Agraringenieur ETH trimmte den gefängniseigenen Bauernbetrieb zur hochkompetitiven Spitzenfarm. Der Einsatz von Zwangsarbeitern verschaffte ihm einen weiteren Wettbewerbsvorteil.
Rentsch zeigte auch grossen Ehrgeiz, wenn es darum ging, Kunden aus der Industrie zu gewinnen. Er warb bei den Unternehmen in der Region um Aufträge und er rühmte sich seiner tiefen Personalkosten.
Mit den Befunden der Historikerin konfrontiert, weist Micarna alle Vorwürfe von sich. Die Migros-Tochter präsentiert sich vielmehr als Helferin, die den Insassen von Bellechasse den Einstieg in die Berufswelt vereinfachen wollte.
Gewiss waren die damals Verantwortlichen bei Micarna Kinder ihrer Zeit, und die administrative Versorgung galt in breiten Bevölkerungskreisen eben als normale Sache. Die Zwangsarbeit heute aber noch als Integrationsleistung zu verkaufen, ist zynisch. Überhaupt vermisst man in der Stellungnahme des grössten Schweizer Fleischverarbeiters ein Wort des Bedauerns.
Es bleibt viel zu tun bei der Aufarbeitung von administrativer Versorgung und Zwangsarbeit in unserem Land.