Am Neujahrstag waren wir mit Freunden zu einem Spaziergang aufgebrochen. Der Tag war warm, sonnig, Hemd und Jacke reichten, Mütze und Schal konnte man getrost zu Hause lassen. Im Genfersee wagten ein paar Leute ein Bad, und es waren nicht die gestählten Eisschwimmer, nein, im Wasser planschten Familien mit kleinen Kindern. Niemand fand etwas dabei. Die Temperaturen sprachen nicht dagegen, nein, sie luden dazu ein. Grund zur Klage gab es nicht, wie auch, nach zwei Wochen Dauerregen war man froh um einen trockenen, sonnigen Tag.
Und doch war an jenem Januartag alles falsch, ungesund, verstörend, ohne Beispiel. Vor über zwanzig Jahren hatte ich einen ähnlichen Neujahrstag erlebt, allerdings auf den Liparischen Inseln, vor der Küste Siziliens, tausend Kilometer weiter südlich und vierhundert Meter tiefer, auf Meereshöhe. Ich machte einige Andeutungen, aber von meinen Freunden hatte niemand Lust, das Thema zu vertiefen.
Früher stand das Gespräch über das Wetter redensartlich für eine unverfängliche Plauderei, aber jetzt, das spürte ich, glich es dem ebenfalls sprichwörtlichen Elefanten im Raum. Ein Thema, das alles bestimmt und niemand anzusprechen wagt. Es gab für dieses Wetter überhaupt keine Worte. «Schön» war es nicht; von «milden Temperaturen» zu reden, war ebenso unpassend, im Gegenteil, sie waren extrem, ausserordentlich. Und weil alle den Konflikt fürchteten, das Ende der Harmonie, die Konfrontation mit der hässlichen, bedrohlichen Realität, versteckten wir uns alle gemeinsam in unserem Schweigen.
Alle reden über das Klima, über das Wetter aber mag niemand reden.
Unangenehme Gefühle
Das Klima ist politisch, es betrifft die Gesellschaft, das Wetter hingegen ist persönlich und berührt auf intime Weise. Es ist unmittelbar, ich muss darauf reagieren, passe die Garderobe und meine Pläne an. Ich bin der Witterung ausgeliefert, als Mensch, ich kann nicht sachlich darüber reden, es berührt mich emotional. Wenn ich über das Wetter rede, rede ich über meine Gefühle. Und beim Wetter vom Neujahrstag schienen diese Gefühle nicht besonders angenehm zu sein, um das Mindeste zu sagen.
Und weil ich zu Hause doch einen Austausch suchte, eine Antwort auf die vielen Fragen, die dieses Wetter mir stellte, begann ich zu lesen. Die Meteorologie erklärte es mir in ihrer eigenen Sprache. Eine ausgeprägte Südwestwindlage mit einem Tiefdruckkomplex über der Iberischen Halbinsel sorgte für die Temperaturrekorde. Zum ersten Mal seit Beginn der Aufzeichnungen wurden am Neujahrstag auf der Alpennordseite mehr 20 Grad Celsius gemessen, und zwar im jurassischen Delémont. Dort hatte das Thermometer bereits um ein Uhr nachts neunzehn Grad angezeigt. Neunzehn Grad! In dieser Region entspricht dies der mittleren Temperatur im Monat Mai – und zwar tagsüber.
Ein ausserordentlicher Neujahrstag, ohne Zweifel, und doch lag er perfekt im allgemeinen Trend. Das vergangene Jahr war das wärmste und sonnigste seit Messbeginn. Lugano erlebte im Juli mit vierzehn Tagen, an denen die Temperatur nie unter dreissig Grad Celsius fiel, die längste je gemessene Hitzeperiode. Rekorde ohne Ende, alles erstaunlich genug, aber es war eine Grafik, die mich begreifen liess, warum niemand über das Wetter reden wollte, was der Grund für den Elefanten im Raum war.
Das Wetter ist nicht das Problem
Diese Grafik zeigte die Entwicklung der Durchschnittstemperaturen seit 1860. Damals, vor 162 Jahren, lag sie in der Schweiz bei viereinhalb Grad Celsius. Danach stieg die rote, eingezeichnete Linie, das sogenannte gleitende Mittel, mit Schwankungen bis Mitte der 1970er-Jahre auf ungefähr fünf Grad. Danach gab es keine Schwankungen mehr, nur noch eine steil ansteigende Kurve auf die Norm der letzten zwanzig Jahre, auf 6,7 Grad Celsius. Für die Jahre nach 2015 war das Mittel noch nicht eingezeichnet, nur der Höchstwert des vergangenen Jahres stand da, ein böser, bedrohlicher roter Punkt auf der Marke bei 10,4 Grad Celsius.
Und da dämmerte es mir. Der Elefant im Raum war nicht das Wetter, es war die Wachstumskurve.
Vom Wachstum ist unsere Gesellschaft elementar abhängig. Wir brauchen eine wachsende Produktivität, um im wachsenden Wettbewerb mithalten zu können. Wachsende Produktivität führt zu wachsender Arbeitslosigkeit; um diese auszugleichen, muss die Wirtschaft wachsen. Diese sogenannte Beschäftigungsschwelle liegt in der Schweiz bei zwei Prozent. In einer Dienstleistungsgesellschaft ist das kaum zu erreichen, wir kennen die Folgen für die Altersvorsorge und die Sozialversicherungen. Aber ob zwei Prozent oder weniger: Jedes Wachstum, einerlei, wie gross es ist, entwickelt sich exponentiell. Bei zwei Prozent wird unsere Wirtschaft in dreissig Jahren doppelt, in hundert aber mehr als sieben Mal so gross sein wie heute. Dasselbe gilt für jede wirtschaftliche Grösse: Löhne, Infrastruktur, Energie.
Nachhaltiges Wachstum ist unmöglich
Es gibt kein grünes und es gibt auch kein nachhaltiges Wachstum. Die Entkoppelung des Rohstoff- und Energieverbrauchs vom Wachstum ist eine Illusion. Das ist keine Frage der politischen Gesinnung, es ist eine Frage der Naturgesetze.
Die Temperaturkurve folgt allen anderen Wachstumskurven. Die Parameter des Wohlstands sind gleich den Parametern der Katastrophe.
Unsere Gesellschaft ist Opfer eines Ponzi-Schemes. Bei diesem Betrug nach dem Schneeballsystem beissen die Hunde bekanntlich immer die Letzten. Niemand will aus dem laufenden Spiel aussteigen, denn dies bedeutet den Verlust aller laufenden Einsätze, auch der eigenen, und so bleibt man dabei bis zum Untergang.
Das kollektive Schweigen, das man als Elefanten bezeichnet, entsteht, wenn Menschen sich nicht aus Abhängigkeiten befreien können. So erträgt man das Unerträgliche, flüchtet ins Schweigen, wird zum Komplizen der Abhängigkeit.
Darum redet niemand über das Wetter
Wir können uns ein Leben ohne Wachstum nicht vorstellen. Es erscheint als existenzielle Notwendigkeit. Die Befreiung davon würde ein anderes Leben bedingen. Als Eckpunkte höchstens zwanzig Stunden Erwerbsarbeit pro Woche. Entsprechend weniger Lohn und entsprechend weniger Konsum. In der freien Zeit würden wir uns vornehmlich jener Arbeit widmen, die wir alle brauchen und die immer weniger Menschen übernehmen wollen, der Pflege der Kinder, der Alten, der Kranken. Natürlich unentgeltlich, aber dafür mit Freude und Enthusiasmus.
Wer kann, wer will sich das vorstellen in einer Gesellschaft, die nichts anderes kennt als das Glück des Konsums, den materiellen Wohlstand, den Rausch des exponentiellen Wachstums? Wer findet für dieses andere Leben eine emphatische Sprache, die wirksamen Lebensmodelle, die demokratischen Strukturen, die politischen Programme?
Eben. Deswegen redet niemand über das Wetter.