Marcel Odermatt schreibt gegen die politischen Gräben an
Es gibt immer eine Alternative!

Publiziert: 11.05.2019 um 23:59 Uhr
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Aktualisiert: 12.05.2019 um 11:39 Uhr
Marcel Odermatt, Politik-Redaktor.
Foto: Shane Wilkinson
Marcel Odermatt

Heiss war es am 1. August 2007. Schon um 10 Uhr früh schwitzte der Tross der Zuhörer, die auf den Schlosshügel im aargauischen Lenzburg pilgerten. Die damalige Aussenministerin Miche­line Calmy-Rey hielt im schattigen Innenhof des Herrschaftshauses ihre erste Rede des Tages.

Eigentlich interessierte das aber niemanden. Entscheidend war, was nachher folgte. Die SP-Magistratin nahm einen Fussmarsch zum Rütli auf sich und wollte damit ein Zeichen setzen. Dies, nachdem es in den Vorjahren zu wüsten Szenen auf der mystischen Wiese gekommen war. Rechtsradikale hatten die Feier gestört.

Allein von ihrem politischen In­stinkt geleitet, das Richtige zu tun, marschierte sie von Seelisberg UR zum mutmasslichen Gründungsort der Eidgenossenschaft. Mein Auftrag als frischgebackener Politik-Reporter an diesem besagten Sommertag: Ich durfte die Genferin aufs «Grütli» begleiten, wie die Romands den Flecken am Urnersee nennen.

Knapp zwölf Jahre später tippe ich diese Woche meinen letzten ­Artikel für den SonntagsBlick.

In der schnelllebigen Politik eine Ewigkeit! Initiativen wurden vom Volk überraschend angenommen, andere weniger überraschend wuchtig verworfen, wichtige Fragen blieben ungelöst, Parteien legten zu, verloren wieder, Parlamentarier und Bundesräte kamen und gingen, einer schaffte gar die Wiederwahl nicht.

Das ist letztlich alles Courant normal. Doch als langjährigem Beobachter bereitet mir persönlich eine Entwicklung grosse Sorge: 
Es ist die umgreifende angebliche Alternativlosigkeit in der Staatsführung. Jedes neue Projekt wird heute dem Volk so verkauft, als gebe es nur eine einzige richtige Lösung.

«There is no alternative», heisst die Losung. Der Slogan geht zurück auf Margaret Thatcher (1925–2013). Die einstige britische Premierministerin hatte das sogenannte Tina-Prinzip – Tina eben für «There is no alternative» (es gibt keine Alternative) – in der Politik eingeführt.

Die Eiserne Lady, eine fanatische Verfechterin des radikalen Marktkapitalismus, benutzte die Parole, um ihre Positionen durchzuboxen. Kam Widerstand auf, wiederholte sie gebetsmühlenartig ihre Forderungen nach Deregulierung und dem Zurückdrängen des Staates. Um in vorwurfsvollem Ton anzufügen: «There is no alternative.» Vierzig Jahre später regiert das Tina-Prinzip auch in der Schweizer Politik. Ausgestattet mit immer professioneller agierenden Stäben und sogenannten Spin Doctors (Image­beratern) stellen Spitzenpolitiker, Verbände und Lobbygruppen auch hierzulande von allen Seiten ihre Positionen ständig als angeblich ­alternativlos dar. Kritik wird nicht selten einfach weggelächelt, Fragende als unwissend und inkompetent hingestellt.

Das führt zu verhärteten Fronten und einem Klima, das dem demokratischen Diskurs schadet. Das beste Beispiel ist zurzeit sicherlich das Rahmenabkommen. Die eine Seite stellt diesen Deal mit der EU als völlig unvermeidlichen Schritt dar, der alle Probleme unseres Landes in der Europapolitik löst, wenig ändert und deshalb unter ­allen 
Umständen unterzeichnet werden muss. Die Gegner dagegen entblöden sich nicht, die Zerstörung der Schweiz heraufzubeschwören, falls die Eidgenossenschaft zum Vertrag Ja sagt.

Wie soll da noch eine intelligente Debatte über die wichtigste aller Fragen möglich sein? Die Frage nämlich nach dem Verhältnis der Schweiz zu ihren Nachbarn. Doch nicht nur in der Aussenpolitik scheint es immer um alles zu gehen. Das Gleiche gilt auch im Migrations-, Energie-, Verkehrs- und anderen Politikbereichen.

Das Problem: Diese extremen Haltungen leugnen die Tatsache, dass der Handlungsspielraum unseres Landes viel grösser ist, als jeweils vorgegaukelt wird. Nehmen wir das in den letzten Jahren oft verhandelte Asylthema: Selbstverständlich könnte diese reiche Nation viel grosszügiger sein, was die Aufnahme von Schutzbedürftigen betrifft. Sie dürfte aber auch – wenn die Bevölkerung es möchte, und durchaus im Einklang mit ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen – strenger sein und weniger Menschen Unterschlupf 
gewähren.

Oder bei Umweltfragen: Dieser Staat könnte es sich zum Ziel setzen, radikal auf ökologisches Wirtschaften zu setzen, beispielsweise bei der Förderung des öffentlichen Verkehrs gegenüber dem Auto. Er kann aber, wenn die Menschen es wollen, auch den Individualverkehr fördern. Der politische Gestaltungswille ist riesig – ganz unabhängig davon, was von vielen Entscheidungsträgern suggeriert wird.

Das Tina-Prinzip schadet der Glaubwürdigkeit und sorgt für Politikverdrossenheit. Es wäre an der Zeit, dass eine der ehrbarsten Eigenschaften der helvetischen Politik – die Dialog- und Kompromissfähigkeit – wieder in den Vordergrund ­rücken würde.
Wie es Calmy-Rey vor zwölf Jahren mit ihrem Gang auf das Rütli vorgemacht hat. Statt Konfronta­tion und Recht zu haben um jeden Preis: 
einander zuhören und den Dialog suchen. Damit am Schluss das beste Argument gewinnen kann.

Mit diesem Artikel verabschiedet sich Politik-Redaktor Marcel 
Odermatt (50) vom SonntagsBlick. Er wird Kommunikationsverantwortlicher der Zürcher Gesundheitsdirektion unter Regierungsrätin
Natalie Rickli (42, SVP).1800 Artikel hat Marcel Odermatt 
in den letzten zwölf Jahren für den SoBli verfasst. Jeder einzelne Text zeugt von Odermatts besonderer Gabe, der Leserschaft die komplexe Politik anschaulich zu vermitteln. Kein anderer Journalist berichtet so lebendig aus dem Bundeshaus, lässt dessen Protagonisten so menschlich und allzu menschlich dastehen. Wir bedanken uns herzlich für 
sein Engagement und wünschen ihm für die Zukunft nur das Beste!
Gieri Cavelty, Chefredaktor

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