Es ist bis heute eines der eindrücklichsten Treffen, die ich als Journalist je hatte: Hoch oben in Crans-Montana VS empfängt mich 2005 der deutsche Publizist Michel Friedman (64) in einer Hotellobby zum Interview. Doch bevor ich zu ihm hinten im Raum gelange, muss ich an Bodyguards vorbei. Jeder fünfte Mensch, dem man begegne, hege latent antisemitische Vorurteile, sagt mir Friedman später im Gespräch. «Die Kränkung, die daraus entsteht, ist enorm.» Und nicht selten steigern sich die Ressentiments zur Lebensgefahr.
Erschreckend deutlich belegt dies der «Süddeutsche Zeitung»-Redaktor Ronen Steinke (37) mit seinem neuen Buch «Terror gegen Juden». Es ist nicht etwa eine Aufarbeitung der Nazi-Gräueltaten während des Zweiten Weltkriegs, sondern eine aktuelle Bestandesaufnahme über Antisemitismus in Friedmans Heimat. Wie wichtig der Schutz für Juden ist, zeigt sich am 19. Oktober 2019 in Halle (D), wo nur eine dicke Eingangstür einen Rechtsextremen an der Stürmung einer vollbesetzten Synagoge hindert.
Auf über einem Drittel des 250-seitigen Buchs ist erstmals eine umfassende Chronik antisemitischer Gewalt in Deutschland seit 1945 aufgelistet – von der Friedhofsschändung im bayerischen Diespeck im Juli 1945 über die kaltblütige Erschiessung eines jüdischen Verlegers und seiner Lebenspartnerin in Erlangen am 19. Dezember 1980 bis zur Deponierung eines zündfähigen Sprengsatzes vor der Thüringer KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora am 19. Januar 2020.
Das hört nie auf. Steinke zeigt, dass der Antisemitismus überall seine hässliche Fratze zeigt – ob bei den Rechtsextremen («Wer Deutschland liebt, ist Antisemit»), bei den Linksradikalen («Love Antifa. FCK ISR. Hate Zionism») oder den Islamisten («Hamas, Hamas, Juden ins Gas»). Man will die Juden nicht da in Deutschland, man will sie nicht dort in Israel; man will sie nicht im Anderssein, man will sie nicht in der Anpassung – dann weist man bloss wieder auf den Unterschied hin –, man will sie gar nicht.
«Schluss damit», fordert Steinke und stellt einen Vier-Punkte-Katalog mit Forderungen auf, was sich im Staat ändern muss: «1. Hate Crimes schärfer bestrafen; 2. Eine Justiz, die niemals die Argumentation antisemitischer Täter übernimmt; 3. Viel konsequentere Entlassungen von Rechtsextremen aus der Polizei; 4. Schutz jüdischer Einrichtungen.»
Wer nun denkt, das sei ein deutsches Problem und gehe uns in der Schweiz gar nichts an, der sollte die eben veröffentlichte Studie «Erfahrungen und Wahrnehmungen von Antisemitismus unter Jüdinnen und Juden in der Schweiz» der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften lesen. «Rund die Hälfte der Befragten gab an, in den letzten fünf Jahren real oder online antisemitisch belästigt worden zu sein», so das Fazit der Forscher. «Fast drei Viertel gehen davon aus, dass Antisemitismus ein zunehmendes Problem darstellt.»
Ronen Steinke, «Terror gegen Juden: Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt – eine Anklage», Berlin