Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Er brachte den Japanern die Kirschblüte zurück

«Überwältigt von Erinnerungen aller Art – voll erblühte Kirschen», dichtete einst der Japaner Basho (1644–1694). Wie die überwältigende Art eines Engländers die japanische Blütenpracht bis heute erhält, daran erinnert dieses Buch.
Publiziert: 04.04.2020 um 15:08 Uhr
ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

Jetzt ist es richtig schön im Homeoffice. Während ich im Geschäft bloss Ausblick auf einen Hinterhof mit Autoabstellplatz hätte, sehe ich zu Hause auf den alten Apfelbaum im Garten, der nun zu blühen beginnt. Daneben steht eine junge Kirsche, die ebenfalls allmählich das weisse Brautkleid anzieht. Ich stehe fasziniert am Fenster und denke daran, wie ich vor Jahren in Japan die Kirschblütenzeit erleben durfte. Deswegen sind die Inselbewohner jeweils um diese Zeit ganz aus dem Häuschen.

«Jeder Meilenstein in meinem Leben ist, wie bei den meisten Japanern, mit Kirschblüten verbunden», schreibt die in Nagoya geborene und heute in London lebende Journalistin Naoko Abe (61) in ihrem eben auf Deutsch erschienenen Buch «Hanami». Darin erzählt sie die wundersame Geschichte des britischen Botanikers Collingwood «Cherry» Ingram (1880–1981), der Anfang des 20. Jahrhunderts 50 japanische Zierkirschenarten in England pflanzte, sie so vor der Ausrottung rettete und später wieder in den Fernen Osten brachte.

Von 1902 bis 1926 bereist Ingram mehrfach das Land der aufgehenden Sonne. Zuerst fasziniert, verlässt er es zuletzt «unter Tränen» und notiert in seinem Tagebuch: «Die alten fernöstlichen Städte wurden ausradiert, und an ihrer Stelle werden ultrawestliche Gebäude von enormer Grösse und Hässlichkeit errichtet.» Was den Naturfreund noch mehr schmerzt: Von den ursprünglich 400 Zierkirschenvarietäten holzen die Japaner nach der Öffnung des Landes 1853 und im Zuge der anschliessenden Industrialisierung die meisten ab.

812 veranstaltete der kaiserliche Hof zum ersten Mal eine Kirschblütenschau, ein sogenanntes Hanami-Fest. Von da an bis zum frühen 12. Jahrhundert begann die Züchtung und Kultivierung der Bäume. «Die Kirschblüten wurden von reichen Aristokraten als ästhetische Objekte und Gegenstand der Literatur wertgeschätzt», so Abe. Es sei aber nicht nur die Elite gewesen, die Blütenkirschen als Zeitvertreib schätzten: «In der Edo-Zeit zwischen 1603 und 1868 wurden an öffentlichen Orten für die einfache Bevölkerung Tausende Bäume gepflanzt.»

Von dieser Vielfalt ist in der Gegenwart kaum etwas übrig. «Ich hatte nie darüber nachgedacht, warum die meisten der in Japan wachsenden Kirschbäume – sieben von zehn – ein und derselben Varietät angehörten», schreibt Abe. Und sie ergänzt: «Als ich 2001 nach London ging, war ich verwundert über die Vielfalt der Zierkirschen auf den Britischen Inseln.» Mitunter das Verdienst von Ingram.

Am meisten schätzte er den Taihaku-Baum – «tai» für gross, «haku» für weiss, weil er bis zu sechs Zentimeter grosse Blüten hat. Ein von Ingram gezogener Taihaku-Trieb schaffte es 1932 mit der Transsibirischen Eisenbahn zurück nach Japan – eingeklemmt zwischen zwei Kartoffelhälften als Nährstofflieferanten. Heute steht der 88-jährige Taihaku-Baum blühend beim Hirano-Schrein in Kyoto, und eine Tafel berichtet von seiner abenteuerlichen Reise von der britischen zur japanischen Insel.

Naoko Abe, «Hanami – Die wundersame Geschichte des Engländers, der den Japanern die Kirschblüte zurückbrachte», S. Fischer

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