Was die Anspruchskrankheit anbelangt, sind Sie offenbar ein milder Fall. Erstens, weil Sie erkannt haben, dass Sie selbst nicht verschont bleiben von den Erwartungen, die Sie an andere stellen. Und zweitens, weil Sie nicht fragen, wie Sie Ihre Mitmenschen dazu bringen, mehr zu leisten, sondern wie Sie es schaffen, Ihre Vorstellungen der Realität anzupassen. Ein akuter Anspruchspatient würde genau das Gegenteil versuchen. Ihre Heilchancen stehen also sehr gut. Doch das Bemühen um Grosszügigkeit wäre reine Symptombekämpfung.
Die Frage ist ja nicht, was Sie unternehmen können, um Ihre Strenge loszuwerden – sondern woher Sie diese überhaupt haben. Und die Antwort liegt auf der Hand: aus Ihrer Kindheit. Auf die eine oder andere Weise, verbal und nonverbal, werden Ihre Eltern Ihnen vorgelebt haben, dass Liebe etwas ist, das man sich hart erarbeiten muss: Nur wer brav und fleissig ist, nur wer durch eindrückliche Leistung hervorsticht, ist ein guter Mensch und somit einer, der Zuwendung verdient hat.
Das ist natürlich kompletter Quatsch, aber dennoch eine weitverbreitete Überzeugung. Und wie das so ist mit den Überzeugungen: Sie schwimmen im Bewusstsein nicht gut sichtbar obenauf, sondern liegen auf dem Grund im Schlamm. Und von dort gilt es sie nun zu bergen.
Auflisten und streichen
Schreiben Sie auf, welche Glaubenssätze Sie im Zusammenleben mit Ihren Eltern erlernt haben. Alle! Streichen Sie dann durch, was Ihnen Missbehagen beschert, und ersetzen Sie es durch etwas, das Sie froh macht. Vielleicht so: «Liebe ist immer da für mich.» Oder: «Ich bin gut, wie ich bin, und alles ist gut, wie es ist.»
Sie sind der Herr Ihrer Wahrheit, niemand sonst. Und grosszügig werden Sie, indem Sie verstehen, warum Sie ungrosszügig geworden sind. Niemand kommt streng und hartherzig zur Welt.