Präsident des ETH-Rates Michael Hengartner erklärt
Diese Schweizer Forscher heilen Tetraplegiker

Michael Hengartner ist Präsident des ETH-Rats – und damit so etwas wie der Chef-Forscher der Schweiz. In seiner Kolumne erklärt er Wissenswertes aus der Wissenschaft.
Publiziert: 04.07.2020 um 13:35 Uhr
Michael Hengartner

Sitzen Sie bequem? Vielleicht stehen oder liegen Sie ja auch gerade. Wo immer Sie sind, wippen Sie doch kurz mit Ihrem rechten Fuss. Gedacht, getan. Wie haben Sie das gemacht? Sie haben den Text gelesen und ans Wippen des Fusses gedacht. Daraufhin hat Ihr Gehirn ein Signal ausgesendet, das über die Nervenstränge des Rückenmarks hinunter bis in Ihren Unterschenkel und Ihren Fuss geschickt wurde. Dort haben sich dann exakt jene Muskeln angespannt, die es für die Bewegung braucht. «Nichts Besonderes», sagen Sie vielleicht. Ich finde: eine bemerkenswerte Leistung.

Bei Para- und Tetraplegikern ist das Rückenmark stark geschädigt, sodass das Signal vom Gehirn unten bei den Muskeln nicht mehr ankommt. Darum können sie nicht mehr gehen – ausser ein paar wenigen, die es dank modernster Medizin und Technik wieder gelernt haben. Grégoire Courtine und Jocelyne Bloch und ihr Team von der EPFL, der Uni Lausanne und dem Unispital Lausanne konnten einigen von ihnen dabei helfen.

Das Prinzip der Wissenschaftler klingt ziemlich einfach: Courtine und Bloch haben den Gelähmten am oberen Rückenmark elektronische Sensoren implantiert. Diese Sensoren merken, wenn ein Impuls vom Hirn kommt, und leiten ihn an der geschädigten Stelle vorbei zum unteren Teil des Rückenmarks. Dort leiten die Nerven den Impuls weiter an die Muskeln der Beine, und die fangen dann an, sich zu bewegen. Im Prinzip wird die geschädigte Stelle also einfach überbrückt.

Im Detail ist es natürlich komplizierter. Damit wir gehen können, müssen in unseren Beinen, Füssen und Gelenken Dutzende Muskeln perfekt zusammenarbeiten. Wir alle brauchten zig Monate, um es zu lernen! Auch die Gelähmten in der Westschweiz mussten schwer üben, bis es klappte. Ihre Beinmuskulatur hatte sich in den Jahren im Rollstuhl zurückgebildet. Ausserdem mussten auch die Sensoren erst lernen, wann welche Nervenfasern aktiv sind.

Es wird noch spannender: Mit der Zeit konnte man die elektronische Unterstützung ausschalten. Im Rückenmark gibt es meistens noch intakte Nervenfasern, und die fangen an, die Aufgaben der Elektronik zu übernehmen! Deshalb können die Gelähmten heute auch ohne Unterstützung einige Schritte gehen. Die Elektronik half dem Nervensystem, sich selbst zu reorganisieren. Es sind sogar Nervenfasern nachgewachsen. Im Internet gibt es Videos von David Mzee: Er geht etwas ungelenk, aber es ist ein phänomenaler Erfolg, dass er überhaupt wieder laufen kann.

Für Courtine und Bloch sind solche Erfolge ein Ansporn, um weiter zu forschen. Aktuell arbeiten sie an der weiteren Verbesserung ihres Systems. Und sie haben ihr Forschungsgebiet ausgeweitet. Neu wollen sie auch Menschen helfen, die einen Schlaganfall gehabt haben oder an Parkinson leiden. Denn bei Parkinson oder einem Schlaganfall passiert im Prinzip dasselbe wie bei einer Lähmung: Es gehen Nervenleitungen kaputt. Und diese defekten Stellen sollte man theoretisch überbrücken können.

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Natürlich wird es noch Jahre dauern, bis das Westschweizer Forscherduo erste Resultate dazu liefern kann. Es wäre toll, wenn es klappen würde!

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