Milena Moser über Naturwunder
Als die Schmetterlinge streikten

Jeden Winter machen die prächtigen, orangefarbenen Monarchfalter auf ihrem Weg zum Überwintern im Süden halt in einem kleinen Küstenort nicht allzu weit von uns. Jedes Jahr besuchen wir sie dort. Doch jetzt haben sie uns versetzt.
Publiziert: 16.12.2024 um 09:03 Uhr
1/4
In Pacific Grove (USA) sind Schmetterlinge eine Touristenattraktion. Ganze Schwärme fliegen dort vorbei. Milena Moser hielt nach ihnen Ausschau.
Foto: zVg

Auf einen Blick

  • Schmetterlinge als Touristenattraktion in Pacific Grove (USA)
  • Monarchfalter versammeln sich jährlich am selben Ort auf ihrer Reiseroute
  • Zahl der Schmetterlinge in den letzten zehn Jahren drastisch verringert
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
Selfie 2.jpg
Milena MoserSchriftstellerin

Ich hatte nicht gewusst, dass Schmetterlinge Reiserouten einhalten, dass sie sich jedes Jahr zur selben Zeit am selben Ort versammeln. Und erst recht nicht, dass man sie dort besuchen kann. Doch hier in Pacific Grove, einer kleinen Stadt an der Küste Kaliforniens, sind sie Touristenattraktion: Jedes zweite Geschäft ist mit den auffällig orangefarbenen, gepunkteten Flügeln dekoriert.

Obwohl die Monarchfalter hier nur auf der Durchreise sind, sind sie zum Symbol für Nordkalifornien geworden, zusammen mit dem ebenfalls orangefarbenen kalifornischen Mohn. Victor hingegen erinnern die bunten Falter an seine Heimat, in der sie den Winter verbringen. Immer wieder tauchen sie auch in seinen Kunstwerken auf. 

Als ich sie das erste Mal sah, das erste Mal von einem Schwarm von Faltern umflattert wurde, glaubte ich, mich in einem Märchen wiederzufinden.

«Sie kommen», sagte er. «Wir müssen sie besuchen!» Wir waren nicht die Einzigen. Die Zahl der Schmetterlinge hat sich in den letzten zehn Jahren drastisch verringert, ein weiterer Effekt der Klimakatastrophe. Doch dieses Jahr wurden offenbar wieder grössere Schwärme gesichtet. Der Parkplatz vor dem Schmetterlingshain war voll, Schul- und Touristenbusse versperrten die Strasse. 

Am Eingang stand ein freiwilliger Helfer, von einer Gruppe mehr oder weniger gelangweilter Kinder umringt. «Das darf ich gar nicht laut sagen», versuchte er ihre Aufmerksamkeit zu erregen. «Aber die Schmetterlinge hier sind dafür bekannt, dass sie ganz viel Whoopee machen!»

Whoopee? Victor und ich schauten uns nur an. Auch die Kinder schienen verwirrt. «Babys, sie machen Babys!» Aber auch das beeindruckte die Kids nicht. Vielleicht, weil es nichts zu sehen gab. Keine Schmetterlinge, kein Whoopee. 

Normalerweise leben Schmetterlinge nur knapp zwei Monate lang, doch jeder Herbst bringt eine sogenannte Supergeneration hervor, die lange genug lebt, um von Kanada nach Mexiko zu fliegen. Unterwegs fügen sie sich zu Gruppen von mehreren Hunderten, manchmal Tausenden zusammen. Ein Schmetterling kommt nie allein. Wie Dachschindeln legen sich ihre Flügel übereinander und bilden einen einzigen wind- und regenfesten Schild. Diese Faltertrauben sind ein einzigartiges Phänomen, ein Wunder der Natur. 

Nur, wo war dieses Wunder heute? Langsam gingen wir den bekannten Weg entlang, spähten zwischen die Baumstämme und in den blauen Himmel hinauf. Schliesslich setzten wir uns auf eine Bank. Wir hielten uns an den Händen und redeten. 

Ein Paar blieb vor uns stehen. «Habt ihr welche gesehen?» Sie sprachen mit Akzent, wie wir auch. Sie waren weit gereist, um dieses Wunder zu sehen, aber auch sie liessen sich die Laune nicht verderben. «Oh, die Schmetterlinge? Die sind der Gewerkschaft beigetreten», witzelte Victor. «Der Gewerkschaft?» «Ja, sie streiken.» «Haha, der ist gut!»

Der Hain war voller Besucher. Sie schienen alle etwas verunsichert, zeigten hier und dort hin, schüttelten die Köpfe. Manche hatten Feldstecher dabei, manche diskutierten mit den freiwilligen Helferinnen, die Falterkleber verteilten. Echte Falter sah an diesem Tag niemand, und niemand wusste, warum. Aber es schien sich auch niemand darüber aufzuregen, und das war das wahre Wunder.

Vielleicht war es der Ort, vielleicht lag die Magie in den Bäumen, warum sich die Schmetterlinge seit Jahrzehnten genau diesen Hain als Zuflucht aussuchten. Wenn sie nicht gerade streikten.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?