Milena Moser über die Schmerzmittelepidemie in den USA
Vom Umgang mit Schmerzen und Schmerzmitteln

Amerika hat mehr Probleme, als es hier Platz hat. Eines davon ist die Schmerzmittelepidemie. Und die hat uns nun gestern auch eingeholt.
Publiziert: 16.02.2020 um 18:24 Uhr
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Foto: David Butow 2019
Milena Moser

«Vielleicht sollte ich das Rezept ja doch einlösen», sagte Victor, als wir nach dem Termin mit dem Herzchirurgen auf den Lift warteten. Besorgt runzelte ich die Stirn. Nicht, weil er sich den Weg ins Parkhaus nicht zutraute, sondern weil er normalerweise keine Schmerzmittel nimmt. Ihm ist jedes zusätzliche Medikament zu viel. Zu den achtzehn verschiedenen Verschreibungen, die er zweimal täglich einnehmen muss.

«Bevor ich krank wurde, nahm ich nicht mal Vitamintabletten», seufzt er manchmal. Doch Schmerz versteht er. Schmerz hat einen Sinn. Das kann er aushalten. Vielleicht zu gut.

Ich habe gelernt, das Pflegepersonal zu warnen: «Victor spricht Schmerz nicht von sich aus an. Sie müssen ihn fragen. Und wenn er sagt, der Schmerz sei eine Acht auf der Skala, dann ist er das auch.»

Seine wechselnden Bettnachbarn schrien schon Zeter und Mordio, wenn sich das Pflegepersonal ihnen auch nur näherte. Ich konnte nachvollziehen, dass sie Victor nicht ganz ernst nahmen. Sie kannten ihn nicht. Sie wussten nicht, was sich hinter seiner stoischen Miene abspielte. «Ich lebe von einem Atemzug zum nächsten», erklärte er mir einmal. «Einatmen, das schaffst du. Ausatmen, komm schon, das kannst du. So geht eine Minute nach der anderen vorbei. Und dann eine Stunde, und dann ein Tag.»

Doch diese schmerzverzerrten Atemzüge sind offenbar nicht tief genug, dass sich die Lunge erholen kann. Der Arzt schimpfte bei der Nachkontrolle. Und so sagte Victor im Lift zu mir: «Okay, dann lass uns halt diese Schmerzmittel abholen.»

Das war ein Fehler. Das Wort «Schmerzmittel» spricht man in der Öffentlichkeit nicht aus. Nicht in der Nähe einer Arztpraxis oder Apotheke, nicht im vollbesetzten Lift in einem Krankenhaus. Prompt hängte sich ein Mann an seine Fersen, drängelte sich so ungeduldig neben ihn, dass Victor stolperte. Wütend zischte ich ihn an, doch er liess sich nicht abhängen, wich nicht von unserer Seite. Selbst in der Krankenhausapotheke drängelte er sich neben uns an die Verkaufstheke, als gehörten wir zusammen. Erst als die Apothekerin zwar zu Unrecht, aber im richtigen Moment sagte: «Oh, das tut mir leid, Ihr Rezept ist offenbar abgelaufen!», gab der Mann auf. Nicht ohne noch wütend ein Regal umzukicken und im Gehen ein paar wüste Drohungen auszustossen.

«Komisch, der war heute schon ein paar Mal da», bemerkte die Apothekerin. «Keine Ahnung, was der wollte.» Keine Ahnung? Die Schmerzmittelepidemie tötet mehr Menschen als Schusswaffen und Autounfälle zusammen, die Sucht unterscheidet nicht zwischen Gesellschaftsschichten, Hautfarben und Geschlechtern. Wie konnte sie sich dessen nicht bewusst sein?

Dann schaute sie noch einmal in den Computer, bemerkte ihren Fehler und händigte Victor eine orangefarbene Plastikdose aus. «Nicht mehr als drei Tabletten täglich nehmen und nicht länger als drei Tage hintereinander», stand auf dem Etikett. Drei mal drei macht neun. In der Dose waren aber sechzig Tabletten. Sechzig.

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