Milena Moser
Ich kann den Mann, den ich liebe, nicht retten

Der Mensch lernt offenbar in seinem ganzen Leben nie mehr so viel wie in seinem allerersten Jahr. Das stimmt wohl. Aber abgesehen davon habe ich nie so viel gelernt wie jetzt gerade.
Publiziert: 02.02.2020 um 14:23 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: David Butow 2019
Milena Moser

Diese gewaltige Entwicklung von der absoluten Abhängigkeit des Neugeborenen zu den selbstbewussten ersten Schritten auf den eigenen zwei Beinen. Mit Bauklötzen um sich werfen, Essen zermantschen, rückwärts die Treppenstufen runterrutschen, Laute nachahmen, jauchzen, sich verstecken, den Küchenschrank ausräumen, lächeln … Eine vergleichbare Leistung habe ich tatsächlich nie wiederholt.

Und doch denke ich manchmal, abgesehen von diesem ersten Jahr habe ich nie so viel gelernt wie gerade jetzt. In dieser ständigen Auseinandersetzung mit Krankheit und Tod. Allerdings ohne die unerschöpfliche Energie der Einjährigen. Und im Gegensatz zum Baby lerne ich nicht, mehr zu machen, sondern weniger. Und das, stellt sich heraus, ist gar nicht so einfach.

Als ich Victor kennenlernte, wusste ich, dass er krank war. Aber mit dem Ungestüm einer verliebten Dampfwalze bildete ich mir ein, ich könnte das ändern. Es dauerte über ein Jahr, bis ich akzeptieren konnte, dass es nicht besser wird. Ich kann nichts tun. Ich kann es nicht flicken, ich kann es nicht richten. Ich kann den Mann, den ich liebe, nicht retten. Das war vielleicht die härteste Lektion. Dass das Leben trotzdem, oder gerade deshalb einen ganz besonderen Glanz hat, voller funkelnder Glücksmomente ist, eine der überraschenderen. Ich lerne jeden Tag etwas Neues. Oder auf neue Weise dasselbe, nämlich: «Du hast es nicht in der Hand, Moser.»

Jetzt sind wir also endlich wieder zu Hause, und sofort ist alles einfacher: keine Schläuche und Katheter mehr, keine piepsenden Monitore, keine randalierenden Bettnachbarn (abgesehen von den Katzen). Aber auch: keine Klingel, kein Alarmknopf, niemand, den man fragen kann, ob diese Kurzatmigkeit noch normal sei und ob die Narbe wirklich so rot sein müsse.

Anfangs lasse ich Victor kaum aus den Augen. «Wie fühlst du dich?», frage ich alle fünf Minuten. «Brauchst du etwas? Lass mich das machen.» Der arme Mann wird fast wahnsinnig. Wenn er könnte, würde er sich jetzt in sein Studio verziehen und dort die Kreissäge anwerfen, nur um meine ständigen Fragen nach seinem Befinden zu übertönen. Stattdessen hängt er sich ans Telefon, und bald schon steht ein Freund vor der Tür. «Ich hole Victor ab. Wir gehen in den Park.»

«In den Park?» Ich sehe gleich hundert Gefahren drohen.

«Der Arzt hat gesagt, ich muss spazieren gehen.»

Das stimmt. Doch in Wirklichkeit gehen die beiden Freunde zum Räumungsverkauf eines der letzten Plattenläden in der Stadt. Zwei Stunden später kommt Victor mit Tüten beladen zurück, glücklich und sichtbar entspannt. Seine tausend Schritte hat er locker zwischen den Regalen zurückgelegt. Wo ist also das Problem? Nirgends – oder höchstens in meinen Vorstellungen von Krankenpflege und Genesung, in meiner irrigen Annahme, alles hänge von mir ab, von meiner Anwesenheit, von meiner Kontrolle.

«Du musst gar nicht so viel, Moser», notiere ich die Lektion des Tages.

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