Fünfzig Jahre, das ist weniger lang, als ich auf der Welt bin. Trotzdem erinnere ich mich nicht an die Abstimmung oder an etwaige Diskussionen darüber, weder bei uns zu Hause noch im Quartier oder in der Schule, nicht im Vorfeld oder danach. Ich erinnere mich auch nicht an eine Veränderung, eine direkte Folge der Abstimmung. Woran ich mich erinnere, ist meine Mutter. Und wie wütend sie damals war. Ihr Zorn entzündete sich an Dingen, die andere Frauen klaglos zu akzeptieren schienen.
So wollte sie einmal mit zwei Nachbarinnen «in der Stadt» mittagessen gehen. Das muss Anfang der Siebzigerjahre gewesen sein, aber ob vor oder nach der Abstimmung, weiss ich nicht mehr. Sie hatten sich ein schönes Restaurant ausgesucht, ich meine, es sei ein Zunfthaus gewesen, aber das kann ich mir später dazugedacht haben. Weil es so gut passen würde. Wo immer es war, die drei Frauen wurden nicht eingelassen. Obwohl sie einen Tisch reserviert hatten. Aber nein, ohne männliche Begleitung wollte man sie nicht bedienen. Das Problem war nicht die Frage, ob sich die drei Frauen ein Essen in diesem gediegenen Lokal auch leisten konnten, nein. Man zweifelte an ihrer Tugendhaftigkeit. An ihren Absichten. Man hielt diese nicht unbedingt biederen, aber bestimmt eher zurückhaltend gekleideten und mit Ehering ausstaffierten Hausfrauen und Mütter aus der Vorstadt für … Prostituierte?
Dass meine Mutter ihrer Empörung lautstark Luft machte, war vermutlich auch nicht gerade hilfreich. Aber so war sie: Sie hielt mit ihrer Meinung nicht zurück. Doch dann rettete eine der Nachbarinnen die Situation mit einem unschlagbaren Argument: Ihr Mann sei Arzt. Dieser wurde sogleich in seiner Praxis angerufen, und er verbürgte sich für seine Gattin und ihre beiden Nachbarinnen. So bekamen die drei Frauen dann doch noch einen Tisch zugewiesen und wurden widerwillig, aber höflich bedient.
Meine Mutter schäumte noch, als sie nach Hause kam. Dabei empörte sie das Verhalten der Nachbarin fast mehr. Mit dem Argument «Mein Mann ist Arzt» habe diese die absurde Vorgabe bestätigt, dass eine Frau nur in Verbindung mit einem Mann einen Platz in der Gesellschaft haben könne – oder an einem Restauranttisch. Dass sich ein Mann für sie verbürgen musste, erniedrigte sie.
Als Kind verstand ich ihre Auflehnung nicht, später bewunderte ich sie, allerdings erst einmal, ohne sie zu teilen. Denn als junge Frau, genauer gesagt, bevor ich Kinder hatte, glaubte ich tatsächlich, meine Generation habe alles erreicht, was meine Mutter sich so wütend zu erkämpfen versuchte.
Erste Zweifel kamen mir allerdings, als ich das Buch «Frauen im Laufgitter» von Iris von Roten las und dabei die ganze Zeit nickte: So ist es, genau so ist es, jaja, genau, so ist es doch. Dass die Autorin einmal als Prostituierte verhaftet worden war, weil sie allein und einen auffälligen Mantel tragend durch die Altstadtstrassen nach Hause gegangen war, erinnerte mich wieder an meine Mutter und ihr in die Familienlegende eingegangenes Mittagessen in der Stadt. Mulmig wurde mir, als ich sah, wann das Buch erschienen war, 1958 nämlich. Gut 15 Jahre vor diesem Mittagessen. Und mehr als dreissig Jahre bevor ich es las und bei jedem Satz dachte: Genau so ist es.
In fünfzig Jahren hat sich vieles verändert. Aber nicht genug.