Nicht erst seit Corona hat sich unser Leben verändert: Das Ein-Verdiener-Familienmodell hat überwiegend ausgedient. Zwei-Verdiener-Familien mit Vollzeit- und/oder Teilzeitpensen sind heute oft die Norm. Die Corona-Krise hat manche Entwicklungen drastisch beschleunigt und z. B. das Homeoffice einem Feldversuch in neuer Dimension unterzogen. Der Mensch wächst ja bekanntlich mit seinen Aufgaben und so erstaunt es mich wenig, dass nach dem ersten Kraftakt das Fazit zu dieser Arbeitsform doch sehr positiv ausfällt. Mit nachhaltigen Auswirkungen auf den ÖV wird man rechnen müssen. Und wenn es um Preise geht, gilt es eben auch aufzupassen!
Wie wir alle, wurde auch der ÖV von der Krise kalt erwischt. Es brachen nicht nur Einnahmen von einem Tag auf den anderen weg, es trat auch klar zutage, dass die Branche bisher keinen Plan hat, wie sie die geänderten Lebensrealitäten in ihrem Billett- und Abonnementsystem umsetzen will.
Die soeben angekündigten Sortimentsmassnahmen wirken denn auch nicht wie der Teil eines zukunftsgerichteten Masterplans, sondern mehr wie ein Flickenteppich bei dem Ausbessern das Ziel ist. So findet sich keine einzige Massnahme, die geeignet wäre, Teilzeit- oder Homeoffice-Arbeitenden den ÖV schmackhaft zu machen. Das Gegenteil ist der Fall. Statt auf Flexibilisierung setzt man lieber auf «Fesseln und Knebeln» der Kunden: Beim Jahres-GA soll die Mindestlaufzeit von vier auf sechs Monate erhöht werden. Statt mindestens 1380 soll man nun mindestens 2060 Franken zahlen müssen. Eine finanzielle Risikoverschiebung von rund 700 Franken hin zu den Kunden. Das dürfte so ziemlich das Gegenteil von «Kunden zurück in den ÖV» sein. Viele andere der angekündigten Massnahmen sind auch nur kosmetischer Natur: Das GA soll z. B. online hinterlegt werden können. Wenn ich es positiv formuliere, sage ich dazu: Besser spät als nie.
Ich möchte einen starken ÖV. Aber auch einen ÖV, der preislich angemessen bleibt! Finanzielle Wundertaten erwarte ich, und vermutlich auch die Kunden, nicht, aber die Weichen müssen nun richtig gestellt werden. Dafür müssen Fragen beantwortet werden. Eine davon ist: Wie kann ein Homeoffice- bzw. Teilzeitarbeit-Abonnent umgesetzt werden? Grosse Chancen sehe ich für flexible Abonnementsysteme, bei denen die Kunden bis zu einer definierten Obergrenze bezahlen, was sie nutzen. Fährt man, zahlt man bis man den «Abo-Deckel» erreicht hat, danach ist es «gratis». Fährt man nicht, zahlt man auch nicht. Technisch ist das heute problemlos machbar.
Finanziell gesehen ist die Branche natürlich ein Opfer der Krise. Anders als bei privaten Unternehmen, gibt es hier aber keinen freien Fall – auch dank der in der Schweiz hohen Zahl von Abo-Kunden. Die Hilfe aus der Bundeskasse ist ausserdem nah. Konzeptionell deckt die Krise auf, dass die Branche in Sachen «neues ÖV-System» ihr Heil nicht in Innovationen zu suchen scheint, sondern lieber Althergebrachtes optimiert und Schnittstellen innerhalb der Branche glättet. Immerhin erkennt ein Teil der Branche nun, dass Leuchtturmprojekte nötig sind, und will sie starten. Ich hoffe, dass das der Auftakt ist, für ein wirklich neues ÖV-System, das Kunden mit seinen lebensnahen Angeboten überzeugt und nicht auf seine Alternativlosigkeit baut.