In meinem Wohnzimmer lagert seit ein paar Wochen der Nachlass von Golo Manns Assistentin Maria Feuz. Golo Mann ist auf den Tag genau heute vor 25 Jahren gestorben, am 7. April 1994. Man kennt ihn aber heute noch als den Verfasser des Bestsellers «Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts», des mit Abstand meistverkauften Geschichtsbuchs deutscher Sprache. Wie die Notizen und Briefe seiner Assistentin den Weg in meine Stube gefunden haben, ist eine längere Geschichte. Und ja, die Freude meiner Familie über die zwei Laufmeter Akten auf dem Sofa hält sich in Grenzen.
Worum es mir an dieser Stelle allerdings geht: Golo Mann, der die längste Zeit seines Lebens im zürcherischen Küsnacht gelebt hat – dieser Golo Mann war schwul. Und er lebte seine Homosexualität aus.
An die grosse Glocke hängte er sein Liebesleben nicht, doch sein Umfeld war im Bild. Dessen ungeachtet behauptet der emeritierte Zürcher Geschichtsprofessor Urs Bitterli in seiner 700 Seiten dicken Golo-Mann-Biografie aus dem Jahr 2004 fälschlicherweise: «Golo ging mit dieser Neigung diskret um. Er akzeptierte sie, sublimierte sie aber ins
Platonische. Die sexuelle Annäherung versagte er sich.»
Undenkbar, dass eine Geistesgrösse wie Golo Mann mit Männern ins Bett ging! Undenkbar noch im Jahr 2004.
Wie anders tickt die Schweiz da 15 Jahre später. Über Homosexualität wird offen gesprochen, Lesben und Schwule können ihre Liebe leben wie alle anderen auch.
Tickt die Schweiz im Jahr 2019 wirklich anders?
Vor Wochenfrist machte Moderator Sven Epiney seinem Partner Michael Graber vor laufender Fernsehkamera einen Heiratsantrag. Wahre Liebe als Entertainment – gefühlvoller kann TV nicht sein.
Die Emotionen gingen in der Tat hoch. Oft freilich in die falsche Richtung. Neben Zuspruch gab es in den sozialen Medien und in den Kommentarspalten auch eine Welle negativer Wortmeldungen.
«Homophobie» bedeutet Angst vor Schwulen und Lesben. Das Wort ist allerdings arg beschönigend: Tatsächlich geht es um blanken Hass.
Der amerikanische Psychiater Martin Kantor sagt: «Das homophobe Wetter mag sich verbessert haben, das Klima aber ist gleich geblieben – oder es hat sich sogar verschlechtert.»
In seinem Buch «Homophobia» geht Psychiater Kantor dem Schwulenhass auf den Grund. Er stösst auf religiöse Motive, auf eine krankhafte Angst vor Krankheiten, auf rechtsextreme Vorstellungen sowie auf ein ausgeprägtes hierarchisches Denken. In jedem Fall rät er jedem Schwulenhasser dringend zu einer Therapie.
Eine weitere Ursache für Homophobie haben die amerikanischen Psychologen Henry Adams und Lester Wright in einem Experiment nachgewiesen. Die beiden zeigten 35 erklärten Schwulenhassern sowie 29 friedlichen Hetero-Männern Videos mit homoerotischem Inhalt. Resultat: Die homophoben Männer zeigten sich von diesen Videos – deutlich messbar – sexuell erregt. Und zwar ausschliesslich sie.
Offensichtlich fürchtet sich zumindest ein Teil der Schwulenhasser ganz einfach vor sich selbst.