Kolumne «Wild im Herzen»
Was Gott mit einer Meeresschnecke verbindet

Die Evolution ist nicht so perfekt und effizient, wie wir gerne glauben. Tatsächlich führt der Zufall Regie. Und Nebenprodukte sind oftmals bedeutender als der ursprüngliche Sinn einer Eigenschaft. Das gilt auch für die menschliche Kultur.
Publiziert: 05.12.2019 um 23:16 Uhr
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Simon Jäggi, Mitarbeiter Naturhistorisches Museum Bern.
Foto: Thomas Buchwalder
Simon Jäggi

Dass wir Menschen nicht perfekt sind, daran zweifelt eigentlich niemand, oder? Wer zum Beispiel das Bierglas ausschüttet, weil er auf die Uhr geschaut hat, kann durchaus in Zweifel geraten, ob die Evolution tatsächlich immer die geistig und körperlich Fittesten hervorgebracht hat (zufällig gewähltes Beispiel).

Während wir uns wohl darauf einigen können, dass der Homo sapiens nicht optimal geraten ist, halten wir die Tiere häufig als perfekt. Alles, was die Evolution designt hat, ist optimal an die Lebenswelt angepasst, so die landläufige Meinung. Und: Jede Eigenschaft hat ihren evolutionären Sinn und Zweck.

Wie wir zu unseren fünf Fingern kamen

Nein, stimmt nicht. Zumindest sagt das inzwischen eine Mehrheit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Freilich hat die Evolution unglaubliche Anpassungen zustandegebracht, dabei hatte der Zufall aber seine Finger mit im Spiel. Apropos Finger: Dass wir Menschen über fünf Finger verfügen, ist wahrscheinlich auch ein Zufall. Die Amphibien-Fisch-Linie, die vor 400 Millionen Jahren das Land besiedelte und von der auch wir abstammen, hatte fünf Finger. Andere potenzielle Vorfahren, die über acht Finger verfügten, starben aus.

Besonders angetan haben es mir Exaptationen und Spandrels. Klingt kompliziert, ist es aber nicht. Exaptationen sind eigentliche «Zweckenfremdungen» von Eigenschaften. Etwa so, als würden sie den Schuhlöffel zum Rückenkratzen verwenden. Das beste Beispiel sind Federn, die erst der Temperaturregulierung dienten – und die Vögel erst später zum Fliegen umnutzten. Als Spandrels werden unbeabsichtigte Nebenprodukte von Eigenschaften bezeichnet. Ein Beispiel sind die Häuser gewisser Schneckenarten. Aus geometrischen Gründen entsteht auf der Unterseite eine Einbuchtung, der Nabel. Manche Arten, wie etwa die Meeresschnecke Margarites vorticiferus, nutzen diese als Brutkammer, um ihre Eier dort gut geschützt zu lagern.

Auch die Religion könnte ein Nebenprodukt sein

Manche Evolutionsforscher halten es für plausibel, dass religiöse Ansichten ein Spandrel darstellen. Dabei sollte man im Glauben also keinen Vorteil suchen, damit wir Menschen eher überleben oder mehr Geschlechtspartner finden. Die Anpassung an die Umwelt hat unsere Fähigkeit zu abstrahieren hervorgebracht – und als Nebenprodukt davon haben wir uns auf die Suche nach Gott gemacht. Spannender Gedanke, nicht?

Simon Jäggi (39) ist Sänger der Rockband Kummerbuben, arbeitet im Naturhistorischen Museum Bern und hält Hühner.

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