Meine Kinder behaupten bis heute steif und fest, sie hätten in unserem Garten einen Kolibri gesehen. Sie stehen damit nicht alleine. Die Kolibris sind zusammen mit den schwarzen Panthern die Aliens der Zoologie. Immer wieder behaupten Leute in Europa, Kolibris gesichtet zu haben, obwohl diese nur auf dem amerikanischen Kontinent vorkommen. Dabei wird es sich im seltensten Fall um ausgebüxte Zoovögel handeln, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach um ein Insekt. Und zwar das Taubenschwänzchen. Ein Nachtfalter aus der Familie der Schwärmer, der aber tagaktiv ist – und eine ziemlich spektakuläre Erscheinung.
Sie fliegen sogar rückwärts
Wegen seiner ungewöhnlichen Spannweite von bis zu sieben Zentimetern, seinem massigen Körper, seinem Saugrüssel und vor allem seinem Schwirrflug sind es längst nicht nur Kinder, die das Taubenschwänzchen mit den filigranen Vögelchen verwechseln. Wie Kolibris schwirren die Tagschwärmer von Blüte zu Blüte, um dort den Nektar auszusaugen. Als einige der wenigen Schmetterlingsarten können sie rückwärts fliegen. Und auch sonst sind sie ausgezeichnete Flugkünstler: Den Rüssel rollen sie bereits im Anflug aus, um ihn zielsicher in den Kelch zu führen. Bewegt sich die Blüte etwa wegen Wind, bewegen sie sich mit und können so ihre Position zur Blüte konstant halten. Bei ihrem Schwirrflug schlagen die Flügel bis zu 90 Mal in der Sekunde, die Fluggeschwindigkeit beträgt bis zu 80 Stundenkilometer!
111 Liter Süssgetränke
Beeindruckend sind auch die Distanzen, welche die Wanderfalter zurücklegen. 2000 bis 3000 Kilometer in zwei Wochen können sie bewältigen. Sie überqueren dabei sogar Alpenpässe. Oftmals wandern die Taubenschwänzchen aus dem Mittelmeerraum zu uns, überwintern aber in immer grösserer Zahl nördlich der Alpen – ein Phänomen der Klimaerwärmung. Auf ihrer Wanderung in den Norden dringen sie teilweise bis Island vor. Bei uns gibt es drei Phasen, in denen die Falter häufiger auftreten: Ende Juni, Mitte Juli und im August/September. Es lohnt sich derzeit also, die Augen offen zu halten.
Eindrücklich ist übrigens auch die Menge an Nektar, welche das Taubenschwänzchen täglich zu sich nimmt: etwa 0,5 Milliliter. Umgerechnet entspricht dies rund 111 Liter Süssgetränken, die ich jeden Tag in mich hineinschütten würde.
Simon Jäggi (39) ist Sänger der Rockband Kummerbuben, arbeitet im Naturhistorischen Museum Bern und hält Hühner. Er schreibt jeden zweiten Freitag im BLICK.