Kolumne «Weltanschauung»
Unterbruch der Mobilität

Die Corona-Krise zwingt uns zum Innehalten. Neben all den negativen Folgen zeigt sie auch, was in der Hektik des Lebens manchmal zu kurz kommt.
Publiziert: 15.03.2020 um 23:22 Uhr
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Aktualisiert: 16.03.2020 um 11:47 Uhr
Giuseppe Gracia

Das Coronavirus zwingt zurzeit viele Menschen dazu, nicht mehr zu reisen und zu Hause zu bleiben. Viele gehen nicht mehr ins Büro, fahren nicht mehr Zug. Und die Kinder gehen nicht mehr in die Schule.

Das steht dem allgemeinen Trend einer mobilen, dauerbeschäftigten Gesellschaft komplett entgegen. Es steht gegen unseren zur Routine gewordenen Drang, in Bewegung zu bleiben, um mit der beschleunigten Moderne mitzuhalten. Und jetzt kommt dieser Unterbruch, der uns zum Innehalten zwingt.

«Sorry, keine Zeit»

Das ist nicht nur negativ. Es ist auch eine Gelegenheit darüber nachzudenken, wie oft unsere zwischenmenschlichen Beziehungen eigentlich von der Tatsache belastet werden, dass wir sonst immer unterwegs sind, immer auf dem Weg von A nach B. Wie oft kommen wir gar nicht mehr zu vertieften Begegnungen, zu echten Gesprächen in der Familie, mit Freunden? Wie oft macht uns das moderne Leben aus Optimierung und Mobilität einen Strich durch die Rechnung, sodass wir einem Freund sagen: «Ich würde gern, habe aber keine Zeit.»

Globalisierte Märkte und Mobilität können dazu führen, dass die Eltern in einem Land leben, die Kinder in einem anderen Land, ja auf einem anderen Kontinent. Wir merken gar nicht mehr, dass uns die grossartigen Möglichkeiten der Globalisierung in die Gefahr grosser Distanzen bringen. Bis die Eltern schliesslich, wenn sie alt und pflegebedürftig sind, weit weg von den Kindern wohnen. Den Kindern, die nicht mehr in der Nähe sind, wenn es vielleicht nötig wäre.

Ausklinken aus dem Jahrmarkt

Das Wunderbare an menschlichen Beziehungen bleibt jedoch, dass sie unglaublich belebend und wertvoll sind, Nahrung für die Seele, wenn wir genug Zeit und Raum dafür haben – und wenn wir nicht zu weit entfernt voneinander wohnen. Wenn wir darauf achten, dass regelmässige Besuche geografisch und zeitlich machbar bleiben.

Es ist erstaunlich, wie spannend und interessant Menschen sind, wenn es jenseits vom Alltagsstress zur echten Begegnung kommt. Wenn wir uns ausklinken aus dem Jahrmarkt zwischen Leistung und Konsum, nur um ganz mit einem Freund oder mit der Familie zusammenzusein. Das ist, wenn es gelingt, Medizin fürs Herz. Nicht nur, aber auch in Zeiten der Pandemie.

Giuseppe Gracia (52) ist Schriftsteller und Medienbeauftragter des Bistums Chur. Er ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. In seiner BLICK-Kolumne, die jeden zweiten Montag erscheint, äussert er persönliche Ansichten.

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