Seit Wochen erleben wir im Zeichen von Corona die Unterbrechung unserer mobilen Beschäftigungsgesellschaft. Der Zwang, eine Pause einzulegen, lässt vieles in neuem Licht erscheinen. War es vorher sehr wichtig, in Bewegung zu bleiben, unterwegs zu sein für alle möglichen Wichtigkeiten an allen möglichen Orten, so hat sich das drastisch geändert. Stillstand. Angst vor Ansteckung. Der Strassenverkehr in den Städten dünnt aus, der Massentourismus ist verschwunden, Kreuzfahrtschiffe bleiben im Hafen, Flugzeugflotten am Boden.
Für die Natur bedeutet dies ein Aufatmen, eine Belastungspause. Und für viele Familien mit schulpflichtigen Kindern bedeutet es Zusammenleben teilweise auf engstem Raum. Man kann einander nicht mehr ausweichen, muss aufeinander achtgeben, miteinander auskommen. Das ist nicht einfach, aber eine Chance auf tiefere Beziehungen. Und eine Chance auf mehr Dankbarkeit.
Recht auf gutes Leben
Viele Dinge, die wir bislang als selbstverständlich empfunden haben, sind es in Wahrheit nicht. Wir vermissen körperliche Nähe, vermissen bedenkenlose soziale Kontakte mit Freunden oder Kollegen am Arbeitsplatz. Wir vermissen überhaupt das Privileg, uns frei zu bewegen und zu reisen.
Vor Corona war das kein besonderes Privileg. Wir lebten in einer Stimmung, als sei es unser Recht, ein gutes, erfolgreiches Leben zu führen. Die westliche Kultur hat auf allen Kanälen das selbstgemachte, selbstgesteuerte Leben propagiert. Das hat viele in die Illusion getrieben, dass sie ein Recht auf alles haben. Dass ihnen Karriere und Glück zustehen, Gesundheit und Genuss. Eine Lebenseinstellung, die keine Dankbarkeit hervorbringt. Wie sollen Leute dankbar sein, wenn sie das gute Leben für ihr Recht halten?
Leben als Geschenk
Die Corona-Krise zwingt dazu, davon Abstand zu nehmen. Dankbarkeit ist die paradoxe Kehrseite von Verzicht und Leid. Wer weiss, dass das Leben kein Recht, sondern ein fragiles Geschenk ist, das niemals ohne Leid und Schwierigkeiten verläuft, der ist dankbar für alles, was er hat. Und wer in diesem Sinn dankbar ist, kann auch glücklich sein und andere Menschen erfreuen. Oder mit den Worten des Denkers und Staatsmanns Francis Bacon (1561–1626): «Nicht die Glücklichen sind dankbar. Es sind die Dankbaren, die glücklich sind.»
Giuseppe Gracia (52) ist Schriftsteller und Medienbeauftragter des Bistums Chur. Er ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. In seiner BLICK-Kolumne, die jeden zweiten Montag erscheint, äussert er persönliche Ansichten.