Kolumne «Weltanschauung»
Alle haben recht

Jeder Mensch will recht haben – was bekanntlich zu gröberen Problemen führen kann. Ein Rabbiner hat unserem Kolumnisten die Augen geöffnet.
Publiziert: 13.05.2019 um 00:17 Uhr
Teilen
Anhören
Kommentieren
BLICK-Kolumnist Giuseppe Gracia (51) ist Schriftsteller und Medienbeauftragter des Bistums Chur.
Foto: Thomas Buchwalder
Giuseppe Gracia

Wer ist im privaten Umfeld nicht schon Zeuge geworden von Trennungen und zwischenmenschlichen Dramen? In Europa werden durchschnittlich fünf von zehn Ehen geschieden. Deswegen muss ich oft an die Begegnung mit einem Rabbi denken, der mir einmal erzählte, wie man in seiner Gemeinde mit dem Thema Beziehungskrise und Trennungswunsch umgeht.

In solchen Situationen wird der Rabbi oft als Eheberater konsultiert. In der ersten Sitzung lässt er in der Regel nur die Frau reden. Der Mann muss schweigen und zuhören, während sich die Frau ausführlich über seine intimsten Mängel beklagt. Der Rabbi hört aufmerksam zu, nickt und sagt dann: «Ich muss mir das alles überlegen. Kommt morgen wieder.»

«Deine Ehe ist eine Zumutung»

Am nächsten Tag sagt er zur Frau: «Ich habe es mir überlegt, du hast recht. Deine Ehe ist eine Zumutung.» Anschliessend lässt er den Mann sprechen, und diesmal muss die Frau zuhören, während ihre intimsten Mängel beklagt werden. Erneut sagt der Rabbi, er müsse sich das überlegen, sie sollen morgen wiederkommen. Am nächsten Tag sagt er zum Mann: «Ich habe es mir überlegt, du hast recht. Deine Ehe ist eine Zumutung.»

Ein seltsames Vorgehen, dachte ich. Was soll das bringen? Man kann doch die Leute nicht so ins Leere fallen lassen. «Natürlich», antwortete der Rabbi auf meine Bedenken, «du hast ganz recht.»

Zur Liebe braucht es mehr

Und als er merkte, dass ich armer, auf Psychoanalyse und Selbstfindungskurse fixierter Mitteleuropäer noch immer nicht begreifen wollte, legte er es mir ausführlicher dar: «Jeder Mensch hat recht, ich meine das ganz ernst. Subjektiv gesehen haben wir alle unsere Gründe, warum wir handeln, wie wir handeln. Die Frage ist nur, ob das genügt, um eine Beziehung zu führen. Solange Menschen nicht begreifen, dass es nicht genügt, recht zu haben, kann ich nicht helfen.»

Seit dieser Begegnung frage ich mich immer wieder, ob mir wirklich bewusst ist, dass es bei der Liebe nicht ums Rechthaben geht, sondern dass die Liebe sich verschenken will. Wahrscheinlich ist uns das allen im Alltag zu wenig bewusst, und der Rabbi weiss das natürlich, weil der Rabbi ebenfalls immer recht hat.

Giuseppe Gracia (51) ist Schriftsteller und Medienbeauftragter des Bistums Chur. Sein Buch «Das therapeutische Kalifat» ist erschienen im Fontis Verlag, Basel. In seiner BLICK-Kolumne, die jeden zweiten Montag erscheint, äussert er persönliche Ansichten.

Teilen
Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?