Wenn ich all den Zeitungsartikeln und Untersuchungen glaube, die mir in den letzten Wochen zugeschickt wurden, ist es ein echtes Problem: Betreuer vergessen, sich selbst zu betreuen. Und sind dann irgendwann so erschöpft und ausgebrannt, dass sie gar niemanden mehr betreuen können. Das Beispiel von der Sauerstoffmaske im Flugzeug wird auch gern angeführt.
Weiss ich alles. Leuchtet mir auch ein.
Nur will ich nicht an den Strand. Ich mag nicht einmal die Massagegutscheine einlösen, die den oben zitierten Zeitungsartikeln beiliegen. Ich kann mich nicht entspannen. Nicht, solange es Victor nicht besser geht. «So shoot me», wie die Amerikaner sagen.
Ich nehme mich eben nicht wirklich als «Angehörigenbetreuerin» wahr (den Ausdruck habe ich auch erst aus einem Leserbrief gelernt). Es kommt mir eher so vor, als sei der Weg, den Victor und ich zusammen gehen, gerade etwas gar steil und steinig und führe auch haarscharf an manch scheusslichen Abgründen vorbei. Aber grundsätzlich ist es immer noch unser Weg. Unser Leben. In dem ich durchaus meine Freiräume habe. Ich muss sie nur nutzen.
Das war allerdings noch nie meine grösste Stärke. Ich habe mich immer irgendwie um die Bedürfnisse der anderen herum organisiert. Wie fliessendes Wasser, das Leerräume füllt, die schon da sind. Und sich ganz langsam und geduldig, fast unmerklich neue Nischen schafft. Das machen wohl die meisten Frauen so, vor allem, wenn sie Kinder haben und diese Kinder noch klein sind. Das finde ich auch gar nicht so schlimm. Es ist kein Unglück, sich mal zurückzunehmen. Wenn es die Situation verlangt. Es sollte nur kein Reflex werden, keine Gewohnheit. Man darf nicht so weit zurücktreten, dass man sich ganz aus den Augen verliert. Das musste ich auch erst lernen.
Mit Victor bin ich nun sozusagen in die X-Games aufgestiegen, zur Extremversion der Selbstverwirklichung. In den realen und manchmal brutalen Herausforderungen seiner Krankheiten könnte ich mich leicht verlieren. Doch dieser tapfere Mann zwingt mich wie noch nie jemand, bei mir zu bleiben, meine eigenen Interessen zu wahren. Er lässt nicht zu, dass ich in der Betreuerinnenrolle aufgehe. Und ich bin ihm dankbar dafür. Manchmal übertreibt er allerdings. Zum Beispiel, als seine Operationswunde anschwoll und schmerzte, die Ärztin einen Bluterguss vermutete und etwas von «wieder aufschneiden» murmelte. Sie ordnete weitere Untersuchungen an. Ich hatte einen Interviewtermin an diesem Tag, ich sagte ihn ab. Versteht doch jeder.
Nicht Victor: Das sei vollkommen überflüssig, schimpfte er, er könne sehr gut mit dem Bus in die Klinik fahren oder notfalls ein Taxi nehmen. Ob ich etwa auch mit ihm in die Röhre kriechen wolle oder wie.
Ich ignorierte ihn. Mir selber treu zu bleiben, heisst eben auch, genau dort zu sein, wo ich in diesem Moment sein will: bei ihm.
Am nächsten Tag aber, als die Ärztin Entwarnung gab, da fuhr ich an den Strand. Es war kalt und windig und wunderbar.