Kolumne «Geschichte»
Desperados auf zwei Rädern

Ohne Karl Freiherr von Drais gäbe es heute weder Velos noch E-Trottinetts. Das verkannte Genie kann aber nichts dafür, dass diese zum Ärgernis für Fussgänger geworden sind.
Publiziert: 05.09.2019 um 23:00 Uhr
Claude Cueni, Schriftsteller.
Foto: Thomas Buchwalder
Claude Cueni

Dass wir heute auf unseren Trottoirs von rücksichtslosen Velo-Rowdys und E-Trottinettlern verjagt werden, hat mit dem Wetter im frühen 19. Jahrhundert zu tun. Und das kam so: Missernten führten zu einer Nahrungsmittelknappheit, zahlreiche Menschen starben den Hungertod. Während wir heute mit der Sexualpädagogin Deanne Carson öffentlich diskutieren, ob man Babys vor dem Wickeln um Erlaubnis fragen muss, hatten die Menschen damals noch echte Probleme.

Auch Karl Freiherr von Drais. Er konnte sich kaum noch das Futter für seine Pferde leisten. Da es damals weder Crowdfunding noch die Kultur des Jammerns gab, erfand er kurzerhand eine hölzerne Konstruktion mit zwei Rädern, eine sogenannte Laufmaschine, ein Vorläufer des Velos, aber noch ohne Pedale. Für den Antrieb benutzte man die Beine. Die «Draisine» erfreute sich rascher Beliebtheit, da man sie nicht füttern musste und sie nie ein Burn-out erlitt.

Hochprozentige Ideen

Doch das Geld, das der Freiherr von Drais beim Futter einsparte, investierte er in Hochprozentiges. Das hielt ihn aber nicht davon ab, 1812 eine «Notenschriftmaschine» zu erfinden, die beim Klavierspielen gleichzeitig die Noten aufzeichnete. Berühmt wurde auch seine «Schnellschreibmaschine» mit lediglich 16 Tasten und ein innovatives Rohrleitungssystem, das von seinen Hauslieferanten, den Schnapsbrennereien, übernommen wurde.

Immunität für Verkehrssünder

Es war wohl einer Schnapsidee geschuldet, dass er an einer Expedition nach Brasilien teilnahm. Als er fünf Jahre später mittellos zurückkehrte, wollte man den «närrischen Mann» entmündigen, aber seine Schwestern retteten ihn. Mittlerweile war seine Draisine von anderen europäischen Herstellern kopiert und verbessert worden. Er griff wieder zur Flasche. Nach einer Wirtshausschlägerei landete er in der Gosse und wurde zum Gespött: «Freiherr von Rutsch, zum Fahre kei Kutsch, zum Reite kein Gaul, zum Laufe zu faul.»

Heute ist das verkannte Genie auf einer Briefmarke verewigt, und die Weiterentwicklungen seiner hölzernen Laufmaschine sind ein Ärgernis für Fussgänger. Denn im Gegensatz zu Autofahrern geniessen Verkehrssünder auf zwei Rädern fast schon diplomatische Immunität.

Claude Cueni (63) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Er schreibt jeden zweiten Freitag im BLICK.

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