Die Politik schreibt Geschichten. Die schönsten erlebte ich in meiner regelmässigen Sprechstunde. Leute aus allen Schichten konsultierten mich mit ihren Problemen. So auch Mustafa, ein Kurde aus Pratteln.
Die Grossmutter hatte ihren Besuch angemeldet. Die 83-Jährige wollte, bevor sie sterbe, nochmals ihren Bub sehen und wenigstens einmal die Enkelkinder umarmt haben.
Für das Regime in der Türkei sind politisch aktive Kurden Terroristen. Deshalb flüchtete der junge Mustafa in die Schweiz. Er arbeitet in einer Uhrenfabrik in Lausen, gründete eine Familie, integrierte sich gut in unsere Gesellschaft
Da ist etwas passiert
Für die Grossmutter seiner drei Kinder war es die Reise ihres Lebens. Noch nie war sie so lange mit der Bahn unterwegs gewesen. Der Zug kam in Basel ohne Grossmutter an. Mustafa suchte bei mir Hilfe. Da sei etwas passiert. Abgereist sei sie, so viel habe er abgeklärt.
Die Grenzpolizei in Chiasso konnte mir nicht weiterhelfen. Einer glaubte sich zu erinnern, eine alte Frau sei nach Mailand zurückgeschickt worden. Dann meldete sich Mustafa. Grossmutter habe angerufen. Sie inszenierte eine wunderbare Geschichte, die gut zur Weihnachtszeit passt.
In Chiasso endete ihre Reise. Grenzbeamte meinten, sie wolle Asyl, und schickten sie nach Mailand zurück. Beim zweiten Einreiseversuch passierte derselbe Irrtum.
Kein Handy, kein Kleingeld
Die Grossmutter konnte mit ihrem Bub nicht telefonieren. Handy gab es noch nicht. Münz hatte sie nicht. Verständigen konnte sie sich auch nicht. Wer versteht denn schon Kurdisch? Sie fand eine geradezu geniale Lösung.
Die Alte legte sich im Mailänder Bahnhof auf den Boden und simulierte eine Ohnmacht. In der Annahme, sie werde dann ins Sanitätszimmer gebracht. Wo sie den Bub anrufen könne. Der Plan ging auf.
Ich liess mich mit dem Chef der Grenzpolizei Chiasso verbinden und erzählte ihm die Geschichte. Zuerst werde sie verpflegt, versprach er. Nachher in den Zug nach Basel gesetzt. «1. Klasse», trumpfte er auf.
Mustafa und ich holten die Grossmutter im Bahnhof Basel ab. Daheim bei Mustafa wurde sie mit grossem Hallo empfangen. Grossmutter erzählte die Vorstellung im Mailänder Bahnhof stinkvergnügt. Der verschmitzten Alten traute man diesen Streich ohne den geringsten Zweifel zu.
Helmut Hubacher (93) war von 1975 bis 1990 Präsident der SP Schweiz. Er schreibt jeden zweiten Mittwoch im BLICK.