Was denken Sie, wenn eine Politikerin wie Mattea Meyer sagt, sie mache «keine Politik, die sich an Wähleranteilen» orientiere, sie sage, was sie denke und mache, was sie für richtig halte? Denken Sie, die hat Charakter? Glauben Sie ihr? Oder hegen Sie vielleicht doch eher den Verdacht, diese Person handle einzig aus Kalkül, sie wolle eine moralische Überlegenheit ausstellen und bei weniger unabhängigen Geistern ein schlechtes Gewissen hervorrufen?
Die SP-Nationalrätin sagte auch, sie wolle «echte Veränderungen erzielen» und Politik müsse dafür kämpfen, dass die Menschen ein «Leben in Freiheit und Würde» haben, und das müsse «für alle gelten und nicht nur für jene mit dem richtigen Pass».
Schlagwort oder Schlafwort?
Wie reagieren Sie darauf? Sind das für Sie eher Schlag- oder eher Schlafworte? Realitätsferner Kitsch? Kommt Ihnen das Wort «Gutmensch» auf die Zunge? Aber da zensieren Sie sich selbst. «Gutmensch», dieses aus der Zeit gefallene Modewort, will jede Moral madigmachen. Jedes Ansinnen, eine solidarischere Gesellschaft zu schaffen, wird ins Lächerliche gedreht. Dagegen sind Sie dann doch immun. Das ist unter Ihrer Würde.
Dasselbe gilt für «politische Korrektheit» (PC). Ebenfalls ein Begriff, den kaum jemand freiwillig auf sich beziehen würde, so erfolgreich war das Anti-PC-Marketing: Rücksichtnahme, Empathie, Anstand seien gleichbedeutend mit Moralkeulen, mit Humor- und Freudlosigkeit, mit Denk-, Sprach- und Redeverboten – mit diesen Zuschreibungen wurden unsere Gehirne geimpft. Selbst wer eigentlich für PC ist, ist dagegen.
Narzissmus mit Tarnkappe
Gibt es Hoffnung aus dem Englischen? Nein. Auch dort wird Moral mit Verdächtigungen belegt. Wer lauthals und kämpferisch seine Werte verteidigt, wird neuerdings mit dem Label «moral grandstander» versehen und als moralischer Aufschneider beargwöhnt. Nicht innere Überzeugung leite das Verhalten an, so der Vorwurf, sondern der Wunsch, für seine Haltungen bewundert oder mindestens wahrgenommen zu werden. Moral sei getarnter Narzissmus.
Das mag sein. Oder auch nicht. In jedem Fall ist die Annahme zukunftsfroher, dass es Menschen gibt, die die Welt tatsächlich zu einer besseren machen wollen, als in jeder und jedem nur noch den Trump zu sehen. Alles werde gut.
Ursula von Arx hat das «Tages-Anzeiger»-Interview mit Nationalrätin Mattea Meyer (die zusammen mit Cédric Wermuth als Co-Präsidentin der SP Schweiz kandidiert) gelesen und gedacht: Was für eine Moraltante. Dann: zum Glück. Denn das ist die Moral von der Moral: Ohne sie wird es sehr schnell sehr ungemütlich. Von Arx schreibt jeden zweiten Montag im BLICK.