Gäbe es keine Atombombe, würden wir alle viel besser schlafen. Warum haben Menschen diese Waffe überhaupt gebaut? Sie hätten doch wissen müssen, dass dieselbe Bombe, die ihre Feinde bedroht, auch ihr eigenes Leben auszulöschen vermag. Was für eine Dummheit!
So klingt scheinvernünftige Empörung. Der Philosoph Karl Jaspers hat sie in seinem Buch «Die Atombombe und die Zukunft des Menschen» (1958) beschrieben. Zugleich hat er den Satz notiert: «Empörung hilft nicht.» Sie hilft ebenso wenig wie die Beschwichtigung, die so geht: Wenn Waffen eine solche Zerstörungsmacht entwickeln, dass sie nicht nur den Feind, sondern auch einen selbst bedrohen, dann werden sie nie eingesetzt. Denn niemand kann seinen eigenen Untergang wollen. Das Gleichgewicht des Schreckens entfaltet seine wohltuende Wirkung. Es wäre also irrational, sich wegen Putins Atombomben um seinen Schlaf zu bringen.
Aber stimmt das wirklich?
Was wir wissen, woran wir glauben
Mensch und Menschheit beginnen nach Jaspers zu hadern, wenn sie in eine Grenzsituation geraten, in der es um Leben oder Sterben geht, um alles oder nichts. Wenn sie sich der Grenzsituation bewusst werden, in der sie stecken. Dieses Erwachen erleben wir gerade. Es ist eine Situation, die im Grunde immer schon akuter war als jede Pandemie, Wirtschafts- oder Klimakrise. Auf die Empörung folgt die Beschwichtigung und auf die Beschwichtigung die Normalität. Die Bilder und News zu den russischen Atombomben erscheinen dann nur noch als imperiales Imponiergehabe, das nervt.
Aber stimmt das wirklich?
Jaspers nennt diese Haltung eine solche der «Vergessenheit» und skizziert einen gänzlich anderen Blick auf das Geschehen. Alle wissen, dass die Atombombe gezündet werden könnte, aber niemand glaubt wirklich daran. Darin liegt die wahre Gefahr – je unwahrscheinlicher das Worst-Case-Szenario erscheint, desto wahrscheinlicher wird es. Die Lage kann jederzeit eskalieren. Es reicht ein Missverständnis, eine falsche Geste, eine Einbildung. Doch solange die Katastrophe als Wahrscheinlichkeit vor unser aller Augen steht, solange wir nicht nur um sie wissen, sondern auch tatsächlich an sie glauben, desto unwahrscheinlicher ist ihr Eintreten.
Nicht unmöglich, aber höchst unwahrscheinlich
In der Grenzsituation gilt Hölderlins Motto: Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Hier liegt die Chance zu «Umkehr» und «radikaler Besinnung»: die Chance zu echter Vernunft. Insofern sollten wir beruhigt sein, dass Putin die Atombomben und Raketen wie eine Monstranz vor sich herträgt. Solange er dies tut, ist ein Atomkrieg zwar nicht unmöglich, aber doch höchst unwahrscheinlich.
Je schlechter wir schlafen, desto mehr Grund haben wir, gut zu schlafen.
René Scheu ist Philosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern. Er schreibt jeden zweiten Montag im Blick.