Fix zur Gesellschaft
Der Spanner am Fenster

Unsere Autorin steht nackt im Zimmer. Das Zimmer ist hell erleuchtet. Dann blickt sie in zwei dunkle Augen. Sie wird von draussen beobachtet.
Publiziert: 30.11.2019 um 14:42 Uhr
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Aktualisiert: 30.11.2019 um 15:41 Uhr
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Alexandra Fitz, stv. Leiterin des SonntagsBlick Magazins.
Foto: Thomas Meier
Alexandra Fitz

Ich bin nackt. Und er starrt mich an. Ich brauchte eine Weile, bis ich ihn bemerkte. Aber dann ist es klar: Er hat nur Augen für mich. Derweil sehe ich noch kaum aus meinen raus. Ich bin gerade auf­gestanden. Wie jeden Morgen stehe ich vor meiner Kleiderstange, weiss nicht, was ich anziehen soll, und ärgere mich, dass ich mir darüber nicht am Vortag Gedanken gemacht und die Kleider parat gelegt habe. Das sagt mir meine Mutter schon seit Schulzeiten.

Ich weiss, sie hat recht. Ich weiss, sie hat immer recht. Ich weiss aber umso mehr, dass ich in vielen Dingen unbelehrbar bin. Faust würde sagen: «Da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor.»

Es ist nicht so, dass ich wahnsinnig adrett bei der Arbeit erscheinen will, und es ist noch viel weniger so, dass mein Schrank (oder halt dieses erbärmliche, farbabblätternde Rohr, an dem meine Kleider hängen) wahnsinnig Adrettes hergibt. Viel eher bin ich mit Entscheiden überfordert. Morgens sowieso.

Aber jetzt zum Spanner. Also. Draussen ist es noch nicht ganz hell, dafür leuchtet mein Zimmer umso heller. Ich bin ausgestellt wie in einem Schaufenster, fühle mich wie die Puppen, bevor sie die neue Winterkollektion übergestreift kriegen. Nur ist mein Hintern echt. Und da drauf starrt er. Ich kehre ihm den Rücken zu, weiss aber, dass er da ist. Ich spüre seinen Blick. Man würde jetzt erwarten, dass ich mir hektisch ein Handtuch umbinde, die Vorhänge zu­ziehe und das Licht lösche. Komischerweise reagiere ich ganz anders. Ich bin fast ein wenig entzückt.

Ich trete näher ans Fenster, damit er mich noch besser sehen kann. Es ist wohl eine Art Provo­kation angesichts des schamhaften Moments. Na, dann schauen wir, wer zuerst peinlich berührt den Blick abwendet. Ich denke: Boah, bin ich selbst­bewusst! Ich denke: Was sagt bloss deine Frau dazu, du Ekel! Wäre ich er, würde ich auch schauen, wenn da jemand nackt in einer Wohnung vis-à-vis um­herspaziert? Ich würde.

Ich fixiere jetzt seine dunklen Augen. Eine Fensterscheibe trennt uns, ein bisschen Luft noch. «Du kleiner, perverser Vogel, du!», zische ich. Und er? Er fliegt weg, der kleine Spatz! l

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