Fix zur Gesellschaft
Der Dreijährige 
in der S4

Im Zug, im Flieger oder im Auto wird unsere Autorin immer traurig. Doch ein kleiner Junge mit blondem Haar und einer Harry-Potter-Brille zauberte ihr in der S-Bahn ein Lächeln ins Gesicht. Und das obwohl er ein trauriges Schicksal hat.
Publiziert: 14.01.2019 um 19:27 Uhr
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Aktualisiert: 21.10.2022 um 11:06 Uhr
Alexandra Fitz, stv. Leiterin SonntagsBlick Magazin
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Alexandra FitzCo-Ressortleiterin Gesellschaft

Der Vater ist jung, keine Ahnung wie jung. Er hat einen Kurzhaarschnitt und noch den Schlaf in den Augen. Der Junge ist klein, keine Ahnung wie klein. Er hat eine gelbe Ente und einen kleinen Löwen aus Plastik dabei. Seine Haare sind vanillefarben, sie wirken weich und gleichzeitig struppig. In seinem Gesicht dominiert eine runde Harry-Potter-Brille. Er sieht süss und ulkig zugleich aus. Ich tuckere bereits eine halbe Ewigkeit durch die Ostschweiz, 
bis sie einsteigen und sich vis-à-vis hinsetzen.


Die Ente plumpst mehrere Male zu Boden, ich hebe sie immer auf. Der Junge schwatzt stets die Sätze des Vaters nach («Luag, dusse häts vill Schnee» – «Dusse häts vill Schnee.») Dieser fragt dann auch: «Bist du ein Papagei?» Da muss der Kleine ­lachen. Wie alt er wohl ist? Da legt er den Kopf auf Papas Schoss und sagt: «Ich bi scho sooo alt», und hält drei seiner Mini-Finger in die Luft. Das will er doch indirekt mir sagen. Er selbst weiss es offensichtlich, und was wird es sein eigener Vater nicht wissen? Ich erfahre: Sie haben einen Termin bei einer Frau Doktor in St. Gallen. «Heute sieht sie dich das erste Mal ohne Sonde», sagt der Vater sanftmütig und streicht über des Sohnemanns Köpfchen. Der Junge fasst sich an die Nase und papageit: «Das erste Mal ohne Sonde.»


Ich schaue aus dem Fenster, das Appenzellerland versinkt unter einer weissen Decke. Meine Augen werden wässrig, und ich frage mich einmal mehr: Warum befällt den Menschen, wenn er sich fortbewegt (im Flieger, im Auto, im Zug) und die Landschaft so an ihm vorbeizieht, oft eine derartig schwere Melancholie? Doch just dann bringt mich der Brillen-Knirps wieder zum Lachen. Weil ich lache, lacht er noch mehr. Ich versuche es zu verbergen, aber Harry Potter hat mich verzaubert! Meine Haltestelle kommt, ich verabschiede mich und wünsche ­einen guten Tag. Innerlich denke ich: Hoffentlich läuft deine Untersuchung gut, kleiner Sonnenschein.


Ich winke, er starrt mich bloss an. Als ich hinausgehe, höre ich den Vater sagen: «Winkst du der Frau nicht? Sie steigt aus» – «Wo geht sie?», höre ich noch. Dann bin ich bei der Schneemasse, die S4 schliesst ihre Türen und zieht weiter. Ich denke noch einmal: «Hoffentlich läuft deine Untersuchung gut, kleiner Sonnenschein.» 

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