Im Januar 1842 fragte der Regierungsrat des Kantons Bern den Schriftsteller Jeremias Gotthelf, ob er das Landvolk in einer Broschüre vor Quacksalbern warnen und für die moderne Medizin werben könne. In den folgenden zwei Jahren schrieb Gotthelf «Wie Anne Bäbi Jowäger haushaltet und wie es ihm mit dem Doktern geht», einen Roman von über 800 Seiten Umfang.
Das war dann doch etwas mehr als die bestellte Schrift. Vor allem aber geht Gotthelf nicht nur mit den gefährlichen Quacksalbern hart ins Gericht. Ebenso an die Kasse kommen die wissenschaftsgläubigen Mediziner – jene zumindest, die in ihren Patienten nicht Menschen sehen, sondern nur Fälle.
Gotthelf lässt im Roman einen Doktor auftreten, der mit den Eltern des schwerkranken Jakobli so kalt und unverständlich spricht, dass diese bei der Pflege alles falsch machen. Was Jakobli prompt ein Auge kostet.
175 Jahre später treten zwei Berner Ärzte mit einem Buch an die Öffentlichkeit. Der Titel klingt etwas verträumt: «Ich stelle mir eine Medizin vor ...» Der Inhalt allerdings hat es in sich. Hier sezieren zwei Insider den Gesundheitsbetrieb – ohne Zorn und missionarischen Eifer. Dr. med. Lisa Bircher und Dr. med. Bruno Kissling sind überzeugte Schulmediziner, nichts läge ihnen ferner, als die ärztliche Wissenschaft grundsätzlich in Frage zu stellen. Umso stärker die Wirkung des Buches auf die Leser.
Die beiden Autoren warnen wie Jeremias Gotthelf vor Ärzten, die schlecht kommunizieren. Und sie warnen ihre Kollegen davor, in den Patienten nicht Menschen zu sehen, sondern nur Fälle. Versteift sich ein Arzt auf Fragen der Technik und Effizienz, besteht die Gefahr, dass der Patient zwar eine kostspielige Behandlung erhält, aber nicht die geeignete. Das gilt besonders im Umgang mit älteren Menschen und Schwerkranken.
Lisa Bircher bringt ein Beispiel: «Mit einem unheilbar Krebskranken zu besprechen, wo er steht, wie er seine Krankheit in Bezug auf sein Leben einordnet, was er von der Medizin erwartet und was ihm für seine letzte Lebensphase wichtig ist, das geht länger, als zu sagen: Wir machen jetzt noch eine Drittlinien-Chemo.»
Gesundheit ist ein Milliardenmarkt. Unsere Spitäler arbeiten gewinnorientiert, Chefärzte beziehen Boni, in ganz normalen Arztpraxen wird von Kunden gesprochen, statt von Patienten.
Selbstverständlich hat unter solchen Voraussetzungen kein Akteur ein Interesse daran, neben Spitzenmedizin und Spezialistentum auch weniger einträglichen, sogenannten weichen Faktoren wie Empathie und Kommunikation einen Wert beizumessen.
Wie erfolgreich der totale Glaube an die Spitzenmedizin ist, zeigt auch dieser Umstand: In der grössten Berner Buchhandlung findet sich das Buch der Ärzte Lisa Bircher und Bruno Kissling nicht etwa im Regal für Medizin. Es liegt in der Abteilung für Lebenshilfe.
Nach landläufiger Meinung muss wirksame Medizin möglichst kompliziert klingen, möglichst technisch daher kommen und möglichst viel kosten.
Das hört sich fast schon an wie der Glaube an Voodoo. Oder – um ein Wort aus Gotthelfs Tagen zu verwenden – an Quacksalberei.