Hat es die legendären Goldenen Zwanziger je gegeben? Falls überhaupt – im Januar 1920 ist davon noch nichts zu spüren. Zwar besitzt Zürich bereits vier Kinos, bald wird die erste Radiostation den Testbetrieb starten. Das dominierende Thema aber ist und bleibt der Grosse Krieg. Der Waffenstillstand wurde 14 Monate zuvor geschlossen, am 10. Januar 1920 tritt nun der Versailler Vertrag in Kraft. Die Stimmung hierzulande ist ausserdem geprägt vom Generalstreik im November 1918 und von der Spanischen Grippe, die Zehntausenden Schweizern das Leben gekostet hat.
Die gesellschaftlichen Spannungen sind enorm, die Wirtschaft lahmt. «Der Friede brachte uns noch nicht das Glück», heisst es im Leitartikel der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 1. Januar 1920. «Manche Erscheinungen weisen auf Zerfall hin. Ähnlichkeiten mit dem untergehenden Rom drängen sich auf.»
Auch heute, hundert Jahre nach jenen düsteren Januartagen, ist der Krieg nicht aus den Schlagzeilen verschwunden. Die Situation im Nahen Osten lässt das Schlimmste befürchten.
Und wenn man nur etwas genauer hinschaut, ist der Krieg in unserem Alltag ebenfalls präsent. Die Wirtschaft befindet sich in einer Art permanentem Kriegszustand. Die Firmen stehen unter dem Kommando von «Chief Executive Officers» – von Offizieren also. Man spricht vom «War for Talents». Und wer als Manager etwas auf sich hält, studiert die Lehren der Generäle Clausewitz und Sunzi. («Strategisches Denken in KMU und die Lehren von Clausewitz» heisst so ein Buch, das im NZZ-Verlag erschienen ist.)
Doch wo Krieg herrscht, da gibt es Opfer. Kein Wunder, bereitet die heutige Arbeitswelt vielen Mühe.
Meine Kolleginnen Camilla Alabor und Dana Liechti haben sich für die neuste Ausgabe des SonntagsBlick bei Gesprächspartnern jeden Alters und unterschiedlicher Herkunft nach ihrem Befinden erkundigt. Dabei zeigt sich: Die Menschen in der Schweiz erleben Erfüllung und Zufriedenheit. Allerdings tun sie dies ausschliesslich im Privaten. Sobald die Sprache aufs Arbeitsleben kommt, herrschen Kummer und Stress.
Wie grossartig die 1920er-Jahre letzten Endes waren, darüber lässt sich streiten. Die Formulierung «Goldene Zwanziger» jedenfalls stammt aus späterer Zeit.
Klar aber ist: Hundert Jahre später wären die Voraussetzungen für goldene Zwanziger in mancherlei Hinsicht tatsächlich gegeben. Die Schweiz ist wohlhabend wie nie zuvor. Es existiert kaum ein Ländervergleich, bei dem sie nicht weit oben rangiert. Und das Beste: Die statistische Lebenserwartung liegt doppelt so hoch wie 1920!
Damit wir im 21. Jahrhundert aber wirklich goldene Zwanziger erleben, müssen wir den Krieg hinter uns lassen. Den Krieg mit Waffen, den Krieg gegen die Umwelt, das Kriegerdenken in unserer Wirtschaft.
Denn «golden» sind nur Zeiten des Friedens.