Ein Tramwagen gerät ausser Kontrolle, rast auf eine Gruppe ahnungsloser Gleisarbeiter zu. Sie, liebe Leserin, lieber Leser, stehen auf einer Brücke, unter welcher der Waggon durchfahren wird. Neben Ihnen ein beleibter Herr, dessen Körperfülle die Strassenbahn aufhalten könnte. Frage: Dürfen Sie den Mann hinunterstossen, um das Gefährt aufzuhalten und damit das Leben der Arbeiter retten?
Die Philosophie spricht vom Fetter-Mann-Problem – eine unsägliche Formulierung. Ebenso zynisch wie konstruiert wirkt das Gedankenexperiment selbst. Und doch zeigt es die Situation, in der sich die Politik derzeit zu befinden glaubt: Welchen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Schaden kann man in Kauf nehmen, wie viele Existenzen dürfen zerstört werden, wenn es um den Schutz insbesondere unserer Senioren sowie gesundheitlich angeschlagener Menschen geht?
Der Bundesrat hat in den letzten Wochen Ausserordentliches gewagt. Die vermutlich verwegenste Massnahme war die Schliessung der Schulen. Unsere Kinder spielen bei der Verbreitung von Covid-19 keine zentrale Rolle. Sie haben höchstens leichte Symptome, husten kaum, rotzen nicht und sind darum keine Virenschleudern. Aus dem Umfeld von Gesundheitsminister Alain Berset ist zu erfahren: Dass die Regierung die Schulen trotzdem geschlossen hat, war nicht zuletzt eine erzieherische Massnahme für die Erwachsenen. Damit sollte wirklich jedem klargemacht werden, wie ernst die Lage ist.
Schultern müssen dies jetzt die Familien. Faktisch sind es vor allem die Mütter, die sehr viel mehr zu tun haben. Von einem Tag auf den anderen sollen sie neben Homeoffice und Hausarbeit auch noch als unbezahlte Lehrerinnen tätig sein. Wie das funktionieren soll, gehört zu den ungelösten Rätseln dieser Corona-Tage.
Nun muss der Staat auch auf anderen Gebieten derart kühn agieren. Denn so viel ist klar: Die bisher gesprochenen Mittel für die Wirtschaft werden nicht reichen. Auch wenn der Lockdown irgendwann gelockert werden sollte – die Rückkehr in ein geordnetes Leben wird länger dauern, als wir es wahrhaben wollen. Umso entschiedener muss der Bund betroffene Firmen, die Beschäftigten und die Selbständigerwerbenden unterstützen.
Die gute Nachricht: Am Geld fehlt es nicht. In Zeiten von Negativzinsen und Haushaltüberschüssen kann der Bund Schulden machen, ohne dass er deshalb schon mit künftigen Sparprogrammen drohen muss.
Auch hat man das vielleicht stärkste finanzpolitische Instrument bislang völlig ausgeklammert: Die Nationalbank sitzt auf Devisenreserven im Wert von 750 Milliarden Franken. Wenn die der Wirtschaft nicht zu einem langen Atem im Lockdown verhelfen können!
Die Notenbanker haben sich bei früheren Diskussionen dagegen gewehrt, dass dieses Kapital zweckentfremdet wird. Man fürchtet den Verlust von Flexibilität. Bloss nützt die grösste währungstechnische Flexibilität nichts, wenn dabei die Volkswirtschaft kollabiert.
In der reichen Schweiz gibt sich also selbst für das Fetter-Mann-Problem eine humane Lösung: Das Tram lässt sich mit dem vielen Geld der Nationalbank stoppen. Die einzelnen Gruppen müssen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Wir können die Menschen vor Covid-19 schützen, ohne die Wirtschaft zu opfern. Es ist alles nur eine Frage des politischen Willens.
Und ja, das Geld würde sogar reichen, um die unter der Schulschliessung leidenden Mütter zu entschädigen ...