Zwei Jahrzehnte lang ging Wahlkampf so: Parteien lancierten eine Volksinitiative oder besser gleich deren zwei – das sorgte für Aufmerksamkeit und mobilisierte die Wähler.
Gestandene Politiker stiegen kurz vor den Wahlen von der Parlamentsbühne herab, um in die Rolle der ausserparlamentarischen Opposition zu schlüpfen. Diese Mimikry zu Marketingzwecken war immer unglaubwürdig. Und oft genug wurden damit Probleme herbeigeredet, die es so nicht gab. Künstliche Aufregung, falscher Ärger. Echte Aufgaben blieben liegen.
Ihren Höhepunkt erlebte die gespielte Volksnähe vor acht Jahren. Jede der vier grossen Bundesratsparteien ging mit mindestens einer Initiative in den Wahlkampf. Vorlagen von Grünen, Grünliberalen, Jungsozialisten, Schweizer Demokraten kamen hinzu. Insgesamt wurden im Wahljahr 2011 zwei Dutzend Volksinitiativen lanciert.
2019 ist alles anders. Die Volksinitiative spielt als Wahlkampfinstrument kaum eine Rolle. Dafür gibt es nun echten Druck von der Strasse. Der Frauenstreik vom 14. Juni war die grösste politische Kundgebung seit Jahrzehnten.
Und die Klimajugend brachte Zehntausende auf die Strasse.
Auf die institutionalisierte Politik haben diese Volksmassen zumindest Eindruck gemacht. So rückte die FDP
immerhin ein Stück weit von ihrer Gleichgültigkeit gegenüber Umweltfragen ab. Und auf den Nationalratslisten der meisten Parteien sind für weibliche Kandidierende bessere Plätze reserviert denn je.
Keine Frage: Nach den Wahlen vom 20. Oktober wird ein frischerer Wind durchs Bundeshaus wehen. Das ist auch bitter nötig! Gerade bei wichtigen Themen wirkt die Diskussion heute festgefahren. Mut und gute Einfälle fehlen – in der Umweltpolitik wie beim Europadossier.
Besonders fantasielos verläuft die Debatte über die Zukunft der Sozialwerke. Mit Ueli Maurer und Karin Keller-Sutter haben gleich zwei Bundesratsmitglieder ihre Sympathie für eine Erhöhung des Rentenalters über 65 Jahre hinaus erklärt. Wie weit weg von der Lebensrealität der meisten Menschen ist das denn? Gibt es keine anderen Ideen? Wäre vor 75 Jahren die heutige Regierung am Ruder gewesen, wäre die AHV wohl gar nicht erst eingeführt worden.
2019 bietet gute Chancen für das Parlament, in diese Debatten neue, humanere Denkansätze einzubringen, näher bei den besorgten Bürgern auf der Strasse zu sein, näher bei Frauen und Familien, näher auch bei den Jugendlichen. Leicht wird das nicht. Denn selbstverständlich werden die vielen Ecken und Winkel des Bundeshauses den frischen Wind abbremsen. Ganz zu schweigen von den vielen Betonköpfen dort.
Wer aber sagt, dass Frauenstreik und Klimajugend die letzten grossen Manifestationen ausserparlamentarischer Opposition gewesen sind? Die Parteien müssen sich in jedem Fall künftig sehr viel besser überlegen, wie sie auf die Menschen zugehen. Und ihnen aufmerksamer zuhören.
Nicht nur im Wahljahr, sondern jederzeit.